Konzentrierte Verweigerung

Maßstabsprünge und andere Erkundungen in der kleinen Weltstadt Frankfurt: Die Schirn Kunsthalle zeigt „Frankfurter Kreuz – Transformationen des Alltäglichen in der zeitgenössischen Kunst“

von GABRIELE HOFFMANN

„Frankfurter Kreuz“ als Titel für eine Ausstellung, die den „Transformationen des Alltäglichen in der zeitgenössischen Kunst“ nachzugehen verspricht, ist ein Volltreffer. Die Vorstellung, ein Nichtort, wie die Begegnungsstätte von täglich 320.000 Fahrzeugen auf 19 Fahrbahnen, könne sich als Garten Eden der Kunst entpuppen, lässt erst einmal vergessen, dass die Rede von der „Ästhetik des Alltags“ im Kunstbetrieb Hochkonjunktur hat.

Annette Tietenberg, Namensgeberin und Kuratorin der Ausstellung in der Schirn, beschreibt das Spezifische der aktuellen Kunst Frankfurts als „unauflöslichen Rest“. Sie benutzt das Wort Henri Lefèbvres aus seiner „Kritik des Alltagslebens“ für die individuelle Erfahrung, die für Planer von Wirtschaft, Finanzen und Verkehr unangreifbar ist. Bankenvorstände, Museumsdirektoren und internationale Künstler haben in Frankfurt zu tun; sie sind Durchreisende, leben aber nur für kurze Zeit in der Stadt. Dies ist ein Phänomen, das zu dem führt, was Jürgen Kaube in einem Katalogbeitrag als „urbane Eigenschaftsarmut“ diagnostiziert. Charlotte Posenenskes grau gestrichenes „6-Flügel-Objekt“ war 1967/68 die Prognose für die entsprechende, noch heute gültige Realität. Erinnerungsarbeit leistet auch die Rekonstruktion einer Ausstellung der universitären StudioGalerie 1967 mit Peter Roehrs seriellen Fotomontagen aus der „VW“-Serie von 1966, Bridget Rileys „Nineteen Greys“ oder einem Nagelbild von Günther Uecker. Auf dem Dach dieser Oase konzentrierter Verweigerung dann das laute Gegenstück: Karsten Bott hat sein 1988 gegründetes „Archiv für Gegenwartsgeschichte“ geplündert und das Zeug nach dem Motto „Von jedem eins“ über viele Quadratmeter verteilt.

Wie es einem ergeht, der dem internationalen Finanzplatz ein Stückchen Urbanität zurückgeben möchte, konnte jüngst Marco Lehanka erfahren. Sein „Telefonhäuschenbrunnen“ wurde – obgleich Sieger im Kunst-am-Bau-Wettbewerb – von der städtischen Projektentwicklungs-GmbH zurückgewiesen. Das Modell in der Ausstellung zeigt die Funktionsweise: Wasser, das aus einem Plastiktopf mit Aufschrift „Ich bin das Meer“ in eine ausgediente gelbe Telefonzelle gepumpt wird, quillt aus einem Spalt unter dem Dach und fließt an den vier Außenseiten herab. Im Foyer der Schirn verwandelt Lehanka die Ablehnung in ein Fantasie und Material sprudelndes „Schöner Scheitern“.

Mit dem Schriftzug „Goethestadt“ in handgeknüpften Klovorlegern bringt Martin Kippenberger sein Verhältnis zu Frankfurt auf den Punkt. Georg Herold, Professor an der Frankfurter Städelschule, genügen zwei verschieden lange Dachlatten zur optischen und schriftlichen Klärung der Verhältnisse: „Goethe“ – „und irgendein Scheißer“. Volker Albus, gebürtiger Frankfurter, Professor für Produktdesign in Karlsruhe, erinnert mit seiner „Sitzgruppe Römerberg“ (1987/88) an den schwersten Sündenfall der Frankfurter Stadtverwaltung, die Römerbergbebauung. Uwe Fischer mit einem Lese- und Dokumentationsraum oder Helke Bayrle mit der 1993 begonnenen Videodokumentation „Portikus under Construction“ geben dem Ausstellungsbesucher Gelegenheit, in der Frankfurter Lokalgeschichte zu stöbern.

„Maßstabsprung“, das Wort, mit dem 1998 ein neuer Hochhausplan ins Spiel gebracht wurde, hat in Frankfurt Karriere gemacht. Schon 1988 muss der zweiundzwanzigjährige Tobias Rehberger, Städelstudent, einen Maßstabsprung im Kopf gehabt haben, als er begann, Sperrholz mit Laubsäge und Bleistift zu bearbeiten. Herausgekommen ist eine Serie Frankfurter Hochhäuser aus der Froschperspektive. Aus heutiger Perspektive führt die als Wandschmuck konzipierte Laubsägearbeit von der Realität zurück in die Vision. Zu den jungen Künstlern, die dem Alltag Ideen und Material entnehmen, gehört auch Andreas Exner. An der Wand hängen bei ihm Röcke, Hosen, Mäntel. Eingenähte Stoffteile, die Aus- und Eingänge verschließen, verwandeln die getragenen Kleidungsstücke in Skulpturen. „Rock“ und „Rote Hose“ sind präsent als Teil einer privaten Lebenswelt, zu der wir keinen Erinnerungszugang haben.

Zu den Überraschungen mit dem „Frankfurter Kreuz“ in der Schirn gehört die gedämpfte Lautstärke, das Fehlen von akustischem Smog. Es ist möglich, sich auf „Bolek“, ein mit Video aufgenommenes 20-minütiges Gespräch zwischen Tamara Grcic, Städelschülerin, und einer jungen Romni zu konzentrieren. Sean Snyders Videoarbeit „Arriving/Transferring Passengers FFM Airport“ kann in der Stringenz von Form und Funktion mit Manfred Stumpfs Emblem „Frankfurter Kreuz“ von 1987 und Thomas Bayrles Pappmodell einer Autorennbahn in DM-Form (1979) konkurrieren. Die Kamera fokussiert den Spalt einer automatischen Tür, in deren Rahmen Flugpassagiere erscheinen.

Warum Frankfurt ? Was die Rhein-Main-Metropole auszeichnet, von den Verkehrsströmen bis zur Konzentration von Wirtschafts- und Finanzmacht mit ihren negativen Folgen für die Urbanität, ist eher der Normalfall bei „kleinen Weltstädten“. Was dagegen die Spiegelung dieser Phänomene in der Frankfurter Kunstproduktion betrifft, so kann die Auswahl der KünstlerInnen und ihrer Exponate Frankfurt als besonderen Ort – weit weg von Köln und von Berlin – glaubwürdig darstellen.

Bis 12. 8., Schirn Kunsthalle, Frankfurt