Die Antike neu entdeckt

Das Archivsystem „Perseus“ zeigt, was das Internet nach dem Kommerzrausch sein kann: Bibliotheken und Museen verschmelzen zu einem universalen Raum des Wissens

Noch im letzten Jahr galt es als Geschäftsidee, eine Website ins Netz zu stellen, die ein paar kommentierte Links zu anderen Websites enthält. Daran mag heute niemand mehr gern erinnert werden, und tatsächlich hätte man es schon immer besser wissen können. Seit gut drei Jahren ist unter www.perseus.tufts.edu/ zu lernen, was es heute schon heißen kann, Wissen im und mit dem Internet zu erschließen. Mit ein paar Computerfreaks, die vom schnellen Geld träumen, ist die Aufgabe gewiss nicht zu lösen. Der antike Name „Perseus“ steht für ein System, das zur so genannten Stufe 2 des 1996 begonnenen amerikanischen Entwicklungsprogramms für digitale Bibliotheken gehört. Finanziert wird es von der staatlichen „National Science Foundation“ und von einem halben Dutzend renommierter privater Stiftungen und Technologiefirmen.

Die futuristischen Dimensionen des gesamten Projekts erschließen sich in seinem heutigen Zustand erst auf den zweiten Blick. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Programmierer sich ein vergleichsweise unspektakuläres Fach als Testgebiet gewählt haben. Perseus ist – zweifellos aus Gründen der Überschaubarkeit – an der Abteilung für „Classics“ der Tufts University in Boston angesiedelt – worunter in diesem Fall sowohl die europäische Antike wie auch das elisabethanische England zu verstehen sind. Wer sich auf diesen Wissensgebieten informieren möchte, ob nun als Laie oder Wissenschaftler, hat mit Perseus das vermutlich perfekteste und modernste Forschungsinstrument zur Verfügung, das es zur Zeit gibt. Es ist Bibliothek und Museum zugleich, erschließt nicht nur Quellen jeder Art, Texte, Kunstwerke und Forschungsliteratur, es ist zugleich ein philologisches Werkzeug, das all diese Bestände lesbar und interpretierbar macht.

Ein Beispiel: Auch Altphilologen werden gelegentlich Mühe haben, lateinische Komödien zu lesen. In der Version von Perseus ist beinahe jedes Wort eines solchen (selbstverständlch online lesbaren) Texts ein Link zum Lexikon, das nicht nur eine (englische) Übersetzung anbietet, sondern gleich eine Statistik über das Vorkommen bei dem entsprechenden Autor sowie weitere Verweise auf seine charakteristischen Kontexte in anderen Quellen jener Epoche.

Nun mögen lateinische Komödien nicht jedermanns Sache sein. Doch selbst sie, so verstaubt sie sind, gewinnen damit einen neuen Reiz. Das System gibt ihnen eine Umgebung, in der sie mehr sind als ein totes Stück Literatur. Zu dieser digitalen Umwelt gehören neben dem Lexikon auch das Archiv der Archäologie und die Kunstwerke aus mehreren mit dem Perseus-Projekt kooperierender Museen, die mit hervorragenden Abbildungen jederzeit aufgerufen werden können. Allein für seine Dokumentation altgriechischer Vasen – um noch ein Beispiel zu nennen – liefert Perseus über hundert Stichwörter, nach denen die über zwei Erdteile verteilten Sammelstücke geografisch, chronologisch, thematisch oder nach Urhebern geordnet und in jeweils neue, überraschende Zusammenhänge gestellt werden können. niklaus@taz.de