Seitensprünge und andere Kleinigkeiten

Letzte Ausfahrt Düsseldorf: In dem Roman „Der Lebenslauf der Liebe“ erzählt Martin Walser von maßgeschneiderten Sakkos und nicht ganz so gut sitzenden Gefühlen. Eine verzweifelt-komische Phänomenologie der Liebe, in der die Aufsteigerschicht vor dem emotionalen Offenbarungseid steht

von KLAUS SIBLEWSKI

Doch, doch, ein mutiger Roman. In „Der Lebenslauf der Liebe“ beschreibt Martin Walser den krachenden Absturz einer Familie aus ihrem verbeulten Mittelschichtshimmel hinab zur Sozialhilfe und lässt dabei kein verschwitztes Hemd und keinen Seufzer aus, der mit einem derartigen Crash verbunden ist. Und: Er ist dabei mit einer Lust auf Neues vorgegangen, die bei vielen Autoren hierzulande, die noch immer das am liebsten entdecken, was sie schon lange entdeckt haben, selten ist.

Schon mit der Wahl seiner Hauptfigur hat Walser keine Rücksichten auf die Erwartungen genommen, die seine Leser ihm entgegenbringen. Er hat den „Geschlechtsäquator“ übersprungen und erzählt aus dem Blickwinkel einer Frau. Die Veränderungen, die das nach sich zieht, sind groß, obwohl Walser nur bis zu einem gewissen Grad die weibliche Perspektive einnimmt. Als Erzähler behält er immer ein eigenes starkes Gewicht: Früher trat er als unsichtbar bleibender Freund seiner männlichen Helden auf, und auch im „Lebenslauf der Liebe“ ist er Susis bester Freund, der alles weiß, was mit und um ihr geschieht. Dennoch: Die Wahl einer Frau als Heldin hat Konsequenzen.

Ein Thema, das Walser früher schon beschäftigte, rückt jetzt ins Zentrum: die Auseinandersetzung mit der Liebe. Vom ersten Satz an schlägt Walser dabei einen bösen realistischen Ton an, der gerade deshalb so böse ist, weil alles scheinbar glatt läuft. Die Kräche zwischen Susi, die gerne treu wäre, und ihrem Ehemann Edmund, der Frauen wie seine Unterwäsche wechselt, sind durchgestanden, die Aufregungen einem ruhigen Gefühlsmanagement gewichen. Der Leser wird Zeuge einer Ehe ohne Szenen, in der Susi einen luxuriös abgefederten Platz inklusive Porsche gefunden hat und mit ihren drei Putzhilfen versucht, wenn schon nicht in der Ehe, so wenigstens in der gemeinsamen Düsseldorfer Dachterrassenwohnung ihre Vorstellung von Ordnung durchzusetzen.

Mit bewunderswerter Konseqenz geht Walser das heikle Thema von Liebe und Verrat an: „Edmund hatte Susi, solange sie schwanger war, jeden Abend vorgelesen. Aus englischen, französischen und russischen Romanen. Das war zwar langweilig, aber wunderschön.“ Viele von Walsers Sätzen erwecken den Eindruck, als habe er ihnen seine sonst so kräftig sprudelnde Rhetorik entzogen, bis sie nur noch vor Dienstbeflissenheit glänzen und eine wichtige Aussage und sonst nichts transportieren. Mit dieser Verknappung arbeitet sich Walser auf dem Terrain der Liebe vor, und worauf er dort stößt, scheint ihn erschreckt zu haben.

Dieses große Erschrecken rührt daher, dass sich nicht sagen lässt, warum Susi nicht längst schon Edmund verlassen hat. Sie ist in dieser Ehe die Inkarnation von Hilfsbereitschaft und Sorge, packt am Anfang des Romans Edmunds Koffer, der wieder einmal mit einer anderen Frau eine Geschäftsreise unternimmt, wie er bisher alle seine Geschäftsreisen mit anderen Frauen unternommen hat. Sie schickt Edmund pünktlich hinaus zum Taxi, und Walser schockiert daran nicht Edmunds banale und gefühlsarme Untreue, sondern dass Susi diesen Mann liebt. Sie ist (s)ein Opfer der Liebe und liebt (ihn) dennoch.

Mit „Sonntagskind“ ist das erste Kapitel überschrieben, eine genaue Bezeichnung von Susis ironischer Lebenssituation. Ihr wird das Glück in der Liebe nicht zuteil, sie kann die emotionale Dauerblockade ihre Ehe nicht durchbrechen, und mit ihrer Suche nach Männern per Zeitungsannonce muss sie aufpassen, selber nicht zu verrohen. Dennoch ist scheinbar alles gut. Mit ihren wechselnden Bekanntschaften, darunter vier Kläusen, einer verdrehter als der andere, als wolle Walser versteckt mit seinen promiskuitiven Helden aus den früheren Büchern abrechnen, kommt sie einigermaßen über die Runden. An ihre Bulimie – sie übergibt sich nach jedem Treffen mit einem dieser Annoncenmänner – hat sie sich gewöhnt; sie beugt sich sogar mit einer gewissen Lust über die Kloschüssel.

Trotzdem ist es keineswegs selbstverständlich, dass die eigentlich starke Figur in diesem emotionalen Katz-und-Maus-Spiel nicht der mit aufgeklärten Sprüchen von Aufrichtigkeit operierende Edmund ist, sondern Susi, die Dauerbetrogene. Auch nach langen gefühlsöden Ehejahren hält sie die Familie zusammen, kümmert sich um Sohn und Tochter. Der Sohn Andreas versucht als heruntergekommene Kopie seines Vaters entlang an Geschäften und Betten einen Weg zu finden, der sich immer schärfer nach unten neigt. Die behinderte Tochter Conny dagegen überbietet das Vermögen der Mutter, bei dieser Familie auszuharren, indem sie nur für kurze schräge Vergnügen und Reisen aus der Wohnung geht, ansonsten ihr Zimmer nur zur ausführlichen Nahrungsaufnahme verlässt.

Erst mit Beginn des zweiten Kapitels („Glücksrad“), wenn Walsers böser Realismus ins Groteske umschlägt, beginnt sich das Verhältnis der Eheleute zueinander zu verändern. Edmund verwickelt sich in immer riskantere Spekulationen, er bringt seinen Aufstieg gründlich zum Einsturz. Die Machtbalance zwischen Susi und Edmund verschiebt sich zu seinen Ungunsten, und erst der finanzielle Ruin der Familie erlaubt es Susi, aus Edmunds Schatten herauszutreten und erste Schritte in Richtung jener Idylle zu unternehmen, vor der Walser im dritten, abschließenden Kapitel seines Romans erzählt: Susis Heirat mit Khalil, dem „Stranger in the night“, wie dieses Kapitel überschrieben ist.

Je mehr sich Walsers „Lebenslauf der Liebe“ von Realismus und Alltäglichkeit entfernt, um so deutlicher tritt das Provozierende an diesem Buch hervor. Angelegt ist der Roman als eine Phänomenologie der Liebe, in der sich die Liebe gegen ihre Chancenlosigkeit zu behaupten versucht und sich am Ende, wenn die 66-jährige Susi und der 29 Jahre alte Khalil aus Marokko sich finden, dann auch noch gegen alle Wahrscheinlichkeit und den guten Geschmack durchzusetzen vermag. Wenn, dann gedeiht die Liebe in Walsers Roman nur am Rand der Gesellschaft, wo ihr nichts als ein altes Sofa vom Sperrmüll in Khalils schummrigen Studentenzimmerchen zur Verfügung steht.

Derart radikal hat Walser die Schicht noch nicht beschrieben, in die auch er aufgestiegen ist, wie viele, die in den letzten Jahrzehnten der Bundesrepublik, unterstützt durch ein durchlässiges Bildungssystem und eine beträchtliche Portion Wille, sich Luxus leisten zu wollen, in wichtige Positionen hineingerutscht sind. Maßgeschneiderte Sakkos und Gefühle, kurzum Liebe und Mittelstand, passen für Walser im „Lebenslauf der Liebe“ nicht zusammen, und mit dieser Sichtweise verschärft er seine ohnehin kritische Sicht auf die Mittelschicht nochmals.

Bisher hat er den Zwang zum Erfolg dafür verantwortlich gemacht, dass sich seine Helden von sich selbst entfremden – solange sie mit ihren Karrieren beschäftigt sind. Wenn seine Kristleins und Zürns jedoch ihre Anzüge ausziehen und bei ihren Familien ankommen, dann finden sie auch langsam zurück zu ihren Gefühlen – eine Illusion, wie Walser jetzt im „Lebenslauf der Liebe“ feststellt. Bevor sie zurückkehren, haben sie die Beziehung zu ihren Frauen und Kindern schon derart zerstört, dass von den Familien überhaupt nur noch klägliche Reste übrig sind. Damit aber steht diese Aufsteigerschicht vor ihrem emotionalen Offenbarungseid.

Rigoros fern hält sich Walser auch vom harmonisierenden Mittelstandsgeschwätz von Partnerschaft, Lebensgemeinschaft und Selbstverwirklichung. Wenn er von Intimität spricht und wenn sich seine Figuren ihr Innerstes vorstottern wollen, dann fällt die andressierte Aufsteigersprache von seinen Figuren ab, und sie greifen entsprechend ihrer Herkunft auf das betont Spießige ihrer angeblich zurückgelassenen Sprache zurück. Da ist von „Pipi“ die Rede, von „Schnuckimucki“, „Schätzchen“ , „fressen, saufen, kotzen“. Diese betont aggressive Verwendung von kleinbürgerlichem Sprachgebrauch ist riskant.

In seiner berüchtigten Friedenspreisrede hatte Walser vor knapp drei Jahren etwas Ähnliches versucht. Er hatte die extrem belastete Vokabel vom „Wegschauen“ verwendet, um denjenigen, die rituell und beflissen von den bösen zwölf Jahren in unserer Geschichte sprechen, entgegenzuhalten, dass ein empfindlicherer und inoffiziellerer Umgang mit dieser Vergangenheit keineswegs bedeuten muss, die deutsche Schuld zu leugnen.

Im politischen Diskurs ging diese stolze Verwendung kleinbürgerlicher Sprache schief, Walser wurde auf die reaktionäre Lesart von „Wegsehen“ festgelegt. Im Roman dagegen vermag Walser zu zeigen, welche Ausdruckschancen in dieser verschmockten Sprache liegen. Die verzweifelt-komischen Gefühlsnöte seiner Figuren werden jenseits aller Peinlichkeit spürbar.

Damit sind wir im rumorenden Zentrum von Walsers „Lebenslauf der Liebe“ angekommen: im Inneren einer Frau, die sich nicht zum Abziehbild ihrer selbst hat machen lassen. Derart nah sind wir schon lange nicht mehr einer Figur gekommen, die sich trotz aller Zumutungen eines nicht hat abhandeln lassen: ihre Fähigkeit zur Liebe.

Am ehesten gerecht wird man Susi und damit Walsers Roman, wenn man ihn als Gegenentwurf zu Fontanes „Effi Briest“ liest und damit als aktuelles Standardwerk über Liebe in der Ehe beziehungsweise über Liebe und Ehe nach der Ehe. Obwohl der Satz von dem „zu“ weiten Feld noch immer seine Gültigkeit hat, wenn von Heirat und Liebe die Rede ist, kann, so Walser, beides doch gelingen. Allerdings gehört eine Frau dazu, die neu anfangen kann, und, was nach Walser ein Widerspruch in sich zu sein scheint, ein treuer Mann. Bitter begann Walsers Buch und, obwohl neue Enttäuschungen hinzukamen, endet es fürs Erste weniger bitter.

Sein Roman, wie könnte ein Lob höher ausfallen, konfrontiert den Leser auf eine bestürzend schöne Weise mit seinen abgründigsten, widerstreitendsten Gefühlen. Dieses Buch will im positiven Sinn erst einmal verkraftet sein.

Martin Walser: „Der Lebenslauf der Liebe“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 525 Seiten, 49,80 DM