Der Ruf der Knoblauchcreme

Die Kinder von Bob Marley und Bal Musette: Das Francofolie-Festival in La Rochelle zeigt sich nach allen Stilen offen

Frankreich ist anders. Während Techno hierzulande seine besten Tage hinter sich haben dürfte, scheint dort dessen subversive Kraft noch ungebrochen. Erst kürzlich wollte die Regierung per Dekret den klandestinen Raves in der Campagne einen Riegel vorschieben, und ließ erst in letzter Minute von dem Vorhaben ab. Nun füllen die Medien das Sommerloch mit dem Skandalthema und schicken ihre Reporter nächtens in die Heide, wo sie nach kleinen grünen Ravern Ausschau halten, die offenbar in UFOs angeflogen kommen und kreisförmige Spuren in Kornfeldern hinterlassen.

Obschon auch in Frankreich ein Techno-Zelt längst zum Inventar aller wichtigeren Musikfestivals gehört – bis nach La Rochelle ist die Rave-Bewegung noch nicht gedrungen. Dafür aber steht die Stadt am Atlantik, die mit ihrer pittoresken Hafenkulisse den idealen Hintergrund für die alljährlichen „Francofolie“-Festivals bietet, allen anderen Stilen offen. Einzige Bedingung: Man singt, rappt oder toastet auf Französisch.

1985 schenkte der Radiomacher Jean-Louis Foulquier seiner Geburtsstadt das Festival, das inzwischen sogar Ableger im Ausland etabliert hat, in der Schweiz, in Belgien und Kanada. Das Mutterfestival stand in diesem Jahr allerdings unter keinem guten Stern: Zum Ende hin mussten gleich zwei der Hauptkonzerte auf der großen Freilichtbühne abgesagt werden, des schlechten Wetters wegen.

Längst sind es nicht mehr alte Chanson-Helden wie Georges Moustaki oder Michel Jonasz, die in La Rochelle den Ton angeben. Sie dürfen im eleganten Theatersaal ihre angejahrte Gefolgschaft beglücken. Die große Bühne dagegen blieb in diesem Jahr solchen Stilen vorbehalten, die im Trend liegen. Das gilt ungebrochen für Reggae, den man in Frankreich dank seiner karibischen Kolonien praktisch zu den einheimischen Traditionen rechnet; ein ganzer Abend wurde mit Gästen aus Jamaika bestückt.

Groß sind in Frankreich aber auch Eigengewächse wie die Têtes Raides, Java oder die Fammouses T., bei denen das Akkordeon hoch im Kurs steht. Doch zeigen diese Bands, was man damit so alles machen kann: Die Têtes Raides sind ein Künstlerkollektiv, das seine Ursprünge in der Straßenmusik, dem Zirkus und der freien Theaterszene hat und heute als Aushängeschild des Alternativ-Chansons gilt: Ganz in Schwarz gekleidet, die Bühne mit weißem Licht pointiert ausgeleuchtet, ist ihr Auftritt auch auf großer Stadionbühne sorgsam inszeniert. Effektvoll schwenkt eine einzelne Küchenlampe herab, deren Lichtkegel den Sänger einkreist und die dieser dann, mit einem kräftigen Stoß, in großem Bogen über die Menge schwingen lässt.

Die Femmouses T. dagegen bringen das Traditionsinstrument der Bal Musette mit brasilianischen Forro- und Capoeira-Klängen in Verbindung; und bei Java, die in ihren speckigen Anzügen sehr an die alten Négresses Vertes erinnern, gibt es statt Gesang Ragga-Stakkatos. „Das hat doch mit Yves Montand nichts mehr zu tun“, meint leicht resigniert ein holländischer Journalist, der auf Chansons vom alten Schlag steht.

Noch weniger an Yves Montand erinnert allerdings der Auftritt des Massilia Sound Systems. Doch auch von Bob Marley wirkt das Kollektiv aus Marseille recht weit entfernt. Echten Raggamuffins dürften die Jungs mit ihren Franzosenmützen wie eine Karikatur erscheinen. Doch Massilia Sound System meinen es durchaus ernst mit ihrer Melange, die den internationalen Ragga-Rhythmus mit dem Akzent des französischen Südens verbindet.

„Aioli“, so wie die Knoblauchcreme, lautet der Schlachtruf der überzeugten Regionalisten, die lokale Multikultur gegen den Sog des Zentralismus verteidigen. Sie tragen das Trikot von „Olympique Marseille“, und ihr DJ verschanzt sich hinter einem Sound System, der als altersschwacher 2 CV verkleidet ist – auch das ein Symbol für den Charme des Lokalen. Obwohl sie in La Rochelle, am Atlantik, quasi ein Auswärtsspiel bestreiten, haben Massilia Sound System das Publikum bald hinter sich – und zur Zugabe hüpfen tatsächlich 6.000 Jugendliche im Stadion Hand in Hand im Takt zum provencalischen Volkstanz. DANIEL BAX