Gewollte Gewalt

Zwei Tage lang war die Polizei unfähig, die Autonomen zu stoppen. Dies war ihre Taktik

aus Genua MICHAEL BRAUN

„Dies ist die Antwort des Staates. Jetzt rächen sie sich an uns. Was hier vorgeht, ist nicht nur beschämend, sondern auch verfassungsfeindlich.“ Noch bleicher, noch angespannter als in den zwei Tagen zuvor ist das Gesicht Vittorio Agnolettos, des Sprechers des Genoa Social Forums (GSF), als er am Sonntag um ein Uhr nachts vor dem gerade von starken Polizei- und Carabinieri-Einheiten gestürmten und besetzten Sitz seines Anti-G-8-Bündnisses eintrifft.

Zum ersten Mal nach zwei Tagen der Gewalt zeigt sich die Polizei nicht „überfordert“, zum ersten Mal hat sie die Lage sicher im Griff. Herbeigerufene Rechtsanwälte haben keine Chance, die Grundschule zu betreten, die dem GSF als Lage- und Pressezentrum dient, und auch der italienische Parlamentsabgeordnete Gigi Malabarba wird von den Carabinieri rüde zurückgestoßen, die mit einem dichten Kordon die „Scuola Diaz“ hermetisch abriegeln.

So effizient hatten sich die Sicherheitskräfte während der Ausschreitungen am Freitag und am Samstag nie gezeigt. Genua erlebte zwei Tage Stadtguerilla mit schrecklicher Bilanz: Ganze Zonen der Stadt wurden verwüstet, hunderte teils schwer Verletzte in die Krankenhäuser eingeliefert, und ein junger Demonstrant starb, getötet durch eine Carabinieri-Kugel. Zu keinem Zeitpunkt zeigte sich die Polizei als Herr der Lage über den Schwarzen Block, obwohl sie sich ganz gewiss nicht auf die Entschuldigung der Göteborger Kollegen zurückziehen konnte: sie sei auf die Ausschreitungen nicht vorbereitet gewesen.

Mit wochenlangem Vorlauf nämlich hatte eine Militarisierung Genuas stattgefunden. Mehr als 20.000 Polizeibeamte wurden in der Stadt zusammengezogen. Hunderte Hausdurchsuchungen, tausende Personenkontrollen fanden statt, und der Altstadtkern wurde in einen von schwer bewaffneten Polizisten bewachten Käfig verwandelt. Die „rote Zone“ hat gehalten – sonst aber ist vom offiziellen Konzept, „die friedlichen Demonstranten zu schützen und die Gewalttäter dingfest zu machen“, nichts geblieben. An diesem Maßstab gemessen, hat die Polizei total versagt.

Aber war es wirklich Versagen? War es nur Unfähigkeit, wenn die Einsatzstäbe sich bei ihren Gewaltszenarien allein auf die Tutte Bianche konzentrierten, die „weißen Overalls“, die zum Eindringen in die rote Zone aufgefordert hatten, dabei aber zugleich den Verzicht auf Steine und Mollis angekündigt hatten. Niemand in Italiens Polizeiführung interessierte sich dagegen für den Schwarzen Block – Zufall?

Daran mag Luca Casarini von den Tutte Bianche nicht glauben. Die Polizei habe die „Schwarzen“ vollkommen ungehindert gewähren lassen, erklärte er schon am Freitagabend nach den Ausschreitungen. Und Vittorio Agnoletto wies darauf hin, dass die kleinen Trüppchen von der Polizei nie attackiert wurden, wenn sie allein durch die Stadtviertel zogen. Kaum aber hatten sie einen der zahlreichen Kundgebungsplätze des GSF erreicht – Kundgebungsplätze, die die Schwarzen systematisch einen nach dem anderen aufsuchten –, dann flogen die Tränengasgranaten in die tausenden friedlicher Demonstranten.

Dieses Vorgehen funktionierte perfekt: Die abziehenden Anarchos zeigten den fliehenden Globalisierungskritikern den Stinkefinger, und die Polizei trieb unterschiedslos alle, die ihr in den Weg kamen, zu Paaren. „Ich selbst sah, wie ein Grüppchen vollkommen friedlicher Demonstranten von zahlreichen Beamten umringt und mit den Schlagstöcken blutig geschlagen wurde“, erzählt eine Journalistin der italienischen Nachrichtenagentur „Dire“.

Manchmal allerdings agierte die Polizei auch, ohne dass zuvor randalierende Autonome auftauchten: Als die Kundgebung auf der Piazza Dante sich schon auflöste und die Teilnehmer abmarschierten, wurden sie mit dichten Tränengasschwaden und Knüppeleinsätzen verabschiedet.

Die Zange der Gewalt, die darauf zielte, den Anti-G-8-Protest des breiten GSF-Bündnisses im wahrsten Sinne des Wortes zu zerschlagen, funktionierte auch am Samstag wieder. „Wo war die Polizei während unserer Großdemonstration, was hat sie unternommen, um das Eindringen der Schwarzen zu verhindern?“

Luca Casarinis Frage kommt zu Recht. Weit und breit war rund um die rund 100.000 Globalisierungskritiker zählende Demo keine Polizei in Sicht, und so sehr sich das Gros der Protestierer bemühte, die Leute des Schwarzen Blocks mit Sprechchören wie „Mörder raus!“ aus ihrem Zug zu drängen, so erfolglos war das Bemühen. Wieder konnten die Schwarzen im Schutz der friedlichen Demonstranten brennende Barrikaden errichten und den ganzen Osten der Stadt in eine Kampfzone verwandeln, und wieder schlug die Polizei unterschiedslos gegen die gesamte Demo zu. „Ich war am Zugeende“, berichtete ein Sanitäter des GSF, in einem Block von Pax Christi und katholischen Basisgemeinschaften. „Wir waren noch auf der Strandpromenade. Bei uns war weit und breit kein Randalierer – aber plötzlich beschoss uns die Polizei von einem Schlauchboot aus mit Tränengas.“

Angesichts dieser Dynamik der Ereignisse wollen die Tutte Bianche nicht mehr an Zufall glauben. Casarini: „Wir haben dutzende Beweise, dass auch Infiltrierte am Werk waren, Fotos von Schwarzgekleideten zum Beispiel, die mit Knüppeln bewaffnet eine Carabinieri-Wache verlassen.“ Auch eine Manifesto-Journalistin erklärte im Gespräch, sie habe schon am Freitag fünf Schwarze gesehen, die unweit der Kampfzone mit einem Carabinieri-Unteroffizier gesprochen hätten.

Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der sonntägliche Sturm auf das GSF-Zentrum für Vittorio Agnoletto Sinn. „Das ist ein Racheakt“, erklärt er knapp, „ein Racheakt dafür, dass wir die Verantwortlichen beim Namen nennen.“ Es ist aber wohl mehr – die Polizeiführung sucht die Schuldfrage in ihrem Sinne zu klären. Ausgerechnet beim GSF will sie nach Angehörigen des Schwarzes Blocks gesucht haben, und ausgerechnet dort will sie fündig geworden sein. Diejenigen, die zwei Tage lang durch die Stadt gehetzt worden waren – sie selbst sollen die Gewalt organisiert haben, die der Polizei den Anlass lieferten, den friedlichen Marsch der 100.000 zu zerschlagen. Eine Interpretation, die wohl die Politik vorgegeben hat. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi in seiner Abschlusspressekonferenz: „Es gibt keine Distanz zwischen dem Genoa Social Forum und den Randalierern. Das GSF hat die Autonomen geschützt und gedeckt.“