Last Minute beim Klimagipfel

aus Bonn MATTHIAS URBACH

Nervös rückt Jan Pronk die Krawatte zurecht, zupft an seiner Nase. Dies soll sein großer Moment werden: Der holländische Tagungspräsident will dem Kreis der 35 Umweltminister seinen Kompromissvorschlag vorlegen. Es ist Samstagabend, 10 Uhr. Zweimal hat Pronk die Sitzung verschoben, denn diesmal muss jeder Satz sitzen. Sein Vorschlag soll der alles entscheidende werden.

Doch bevor Pronk seinen Text verteilt, richtet er ein paar mahnende Worte an die Ministerrunde. „Reagieren Sie nicht zu schnell, diskutieren Sie erst ausführlich in ihren Ländergruppen.“ Und der Präsident unterbreitet seinen Zeitvorschlag: „Ich möchte morgen Früh mit bilateralen Verhandlungen beginnen, eine Gruppe nach der anderen.“

Entsetzen in den Gesichtern der EU-Minister. Trittin beugt sich nach vorn, schaut ungläubig und fährt sich mit der Hand durchs Haar. „Das Vorgehen gibt Ihnen Zeit zu schlafen“, schiebt Pronk hinterher, „das ist gut, denn Sie arbeiten am besten nach einer guten Nachtruhe.“ Mehrere Minister versuchen das Vorgehen zu beschleunigen. Allen voran Raul Estrada von der argentinischen Delegation. Doch Pronk bleibt hart.

Sollte das Protokoll scheitern, wäre dieser Moment der entscheidende gewesen. Katerstimmung bei der deutschen Delegation, die sich hinterher um einen Tisch in der Lobby versammelt, während eine Delegierte Bier holt. Die Deutschen wollten die Verhandlungen des Papiers bis 6 Uhr früh am Sonntag halbwegs über die Bühne haben. Denn um 8 Uhr hatten sich die Regierungschefs in Genua Zeit genommen, um über das Klimaprotokoll zu reden. Das macht aber nur Sinn, wenn es dann nur noch um ein, zwei offene Fragen in einem ansonsten geschnürten Paket geht. Auf die Frage, ob aus Genua noch mit nennenswerter Unterstützung zu rechnen sei, antwortet Trittin lakonisch: „Genua? Wo liegt das?“

Der Argentinier Raul Estrada war es, der 1997 im japanischen Kioto das Protokoll durchpeitschte, dessen Details nun in Bonn verabschiedet werden sollen. Dies gelang dem legendärem Verhandlungsführer nur, weil er die Delegierten müde verhandelte. „Pronk macht denselben Fehler wie schon in Den Haag“, klagt Jürgen Maier vom Forum Umwelt und Entwicklung. „Er verschiebt die entscheidenden Verhandlungen auf den letzten Moment.“ Pronk aber will sich die Show nicht von den Staatschefs auf dem G-8-Gipfel stehlen lassen. Er, der in Den Haag so grandios gescheitert ist, will es diesmal allen zeigen: Er kann einen Gipfel zum Erfolg führen.

Die Stimmung bei den Deutschen hellt sich etwas auf, als schließlich um halb zwölf das Pronk-Papier ausgeteilt wird: Es ist, wie die EU-Unterhändler in nur 45 Minuten feststellen, ein schwieriger Kompromiss, aber akzeptabel. Trittin ist der Erste, der es am Sonntagmorgen öffentlich sagt: „Wenn die Frage sich stellt, ob man das so annimmt oder ablehnt, würde die EU und auch die Bundesrepublik das akzeptieren.“

Hoffnung kommt auf unter den Gipfelteilnehmern. Trittin bemüht sich klarzustellen, dass man den Pronk-Entwurf nur ablehnen oder ihm zustimmen kann, nicht aber weiter darüber verhandeln kann. Schließlich hatte Pronk am Abend noch so ungeschickt davon gesprochen, sich am Sonntag „die Vorschläge“ der Ländergruppen anhören zu wollen. Bloß keine weiteren Verzögerungen, bloß das Paket nicht wieder öffnen, so die Devise der EU, schließlich wollen am Sonntagabend die ersten Minister aus den Reihen der Entwicklungsländer abreisen.

Das ist freilich Kanada und Japan alles egal. Sie präsentieren Pronk noch in der Nacht 28 Änderungsvorschläge. „Mehr als unverschämt“, klagen Umweltschützer verzweifelt. Auch sie könnten überwiegend mit dem Kompromiss leben – „wenn wir auch viele Kröten schlucken müssten“, so Stephan Singer vom WWF. Denn Tagungspräsident Pronk hat Japan und Kanada enorme Zugeständnisse gemacht.

Vor allem bei den so genannten Senken. Damit ist alles gemeint, was Kohlenstoff im Boden oder in Pflanzen bindet. Nicht nur würde es generell erlaubt sein, sich Klimagutschriften anrechnen zu lassen durch die Aufforstung von Wäldern. Auch der Anbau von Plantagen, Forstmanagement, ja selbst der Schutz vor Wäldbränden und weniger Bodenbearbeitung beim Ackerbau (Umweltschützerspott: „Flacher pflügen!“) bringen Gutschriften, die den Industriestaaten erlauben, anderswo mehr Treibhausgase in die Luft zu blasen. Dabei sind diese Maßnahmen kaum kontrollierbar und wissenschaftlich umstritten. Damit nicht genug: Während in Pronks Papier bei allen anderen Staaten dieses Mittel eng begrenzt ist auf rund ein Prozent ihrer Klimaverpflichtung, dürfen Kanada, Russland und Japan dieses Schlupfloch großzügig einsetzen. Ja sie bekamen sogar etwas mehr, als sie gefordert hatten.

Insgesamt vier Themen waren zu Beginn der Verhandlungen strittig zwischen EU und der so genannten Umbrella-Gruppe, in der Japan, Australien und Kanada den Ton angeben: Erstens das Ausmaß der Senken. Zweitens, ob ein Land den Großteil seiner Verpflichtung zu Hause erfüllen muss. Drittens, ob man sich einen Klimabonus anrechnen darf, in dem man Atomkraftwerke in anderen Ländern errichtet. Und viertens, wie stark die Einhaltung des Klimaziele kontrolliert und bei Nichterfüllung bestraft wird.

Pronk kam der Umbrella-Gruppe in Punkt eins und zwei komplett entgegen: jede Menge Senken und keine Vorschrift für den Anteil zu Hause. Im Punkt drei gab er der EU-Position den Vorzug: keine Förderung der Atomkraft für den Klimaschutz. Und im Punkt vier kam er der EU weit gehend entgegen: strenge Kontrolle und eine Strafe für Klimasünder. Wer bis 2010 weniger als vorgeschrieben reduziert, muss entsprechend mehr Treibhausgase in der nächsten Buchungsperiode bis 2020 einsparen – plus einem Strafaufschlag von 30 Prozent.

Während die EU signalisierte, mit den Zugeständnissen leben zu können, kam zunächst von den Entwicklungsländern Protest: Sie vermissen vor allem definitive finanzielle Hilfszusagen und Technologietransfer. Am Sonntagvormittag gelang es der EU, diese Bedenken zu zerstreuen, in dem man weitere Hilfen über das Pronk-Papier hinaus anbot: gut eine halbe Milliarde Dollar jährlich.

Japan und Kanada blieben auch in den ersten Verhandlungen direkt mit der EU am Sonntagmittag hart. Mindestens acht Punkte seien für sie über das Pronk-Papier hinaus absolut unverzichtbar: Vor allem Atomkraft und weniger Sanktionen bei Nichterfüllung. Zu diesem Zeitpunkt löste sich der G-8-Gipfel in Genua bereits mit einer allgemeinen Erklärung auf. Die historische Chance, über die Staatschefs eine politische Einigung über die letzten ein, zwei offenen Fragen zu erzwingen, war endgültig verpasst. In Bonn war das gemeinsame Ministerplenum zu Pronks Vorschlag noch immer nicht zustande gekommen, hatte sich außer der EU niemand offiziell zum Pronk-Vorschlag verhalten.

Trotzdem keimten in der deutschen Delegation am späten Nachmittag wieder Hoffnungen auf: Denn die Umbrella-Gruppe begann langsam zu zerfallen. Nicht nur Neuseeland, auch Norwegen wandte sich enttäuscht von Japan, Kanada, Australien und deren Erpressungspolitik ab. Sie signalisierten ihre Zustimmung zum Pronk-Papier. Und auch Umbrella-Mitglied Russland bewegte sich einen Schritt auf die EU zu. Dies ist vermutlich einem der wenigen Impulse aus Genua geschuldet: Dort hatte Kommissionspräsident Romano Prodi mit Russland ein Kooperation im Klimaschutz mit Staatschef Wladimir Putin ausgehandelt: Putin versprach Einnahmen aus dem Handel mit Klimazertifikaten in effizientere Energieverwendung in seinem Land zu investieren. Prodi versprach im Gegenzug technische Hilfe.

Die Zeit lief gestern gegen die EU. Und eine weitere Vertagung wäre, so vermuten Umweltschützer, vermutlich verheerend. Denn dieses Mal waren die USA noch mit einer Delegation angereist, die zum größten Teil noch aus Clintons Leuten bestand. Bis zum nächsten Mal will Bush sie alle durch republikanische Hardliner ersetzt haben – und eine eigene Klimainitiative vorschlagen. Dann spätestens wäre es mit der Zurückhaltung der Amerikaner vorbei – Japan könnte sich wieder hinter seinem Allierten verstecken.

Auch für den eigensinnigen Jan Pronk wäre eine Vertagung ein Blamage: Er ist nur noch dieses Mal Präsident der Klimakonferenz.