Scheinheilige Gewaltdebatte

Politische Gewalt mag nicht legitim sein, aber die Erfahrung lehrt: Sie ist nützlich. Sie mobilisiert soziale Bewegungen – und zwingt die Mächtigen zum Zuhören

Die Gewalt der Polit-Hooligans schadet den berechtigten Anliegen der Globalisierungskritiker. So in etwa lauten in diesen Tagen die Kommentare zu den Ausschreitungen rund um den G-8-Gipfel in Genua. Sie sind scheinheilig. Denn ohne die spektakulären Bilder brennender Autos, verletzter Demonstranten und schießender Polizisten hätten die bürgerlichen Medien den politischen Anliegen der Globalisierungskritiker in ihrer Berichterstattung kaum nennenswerten Raum eingeräumt, hätte die Frage „Wem gehört die Welt?“ es nicht auf den Titel der jüngsten Ausgabe des Spiegels geschafft.

Unsinn?! Wer, bitte schön, hat sich für die fünfzig Prozent arbeitsloser Heranwachsender asiatischer Herkunft im nordenglischen Bradford interessiert, bevor sie sich nächtelang Straßenschlachten mit der Polizei geliefert haben? Oder für die Opfer der Globalisierung in den französischen Vorstädten? Hätten sie lediglich Petitionen und Resolutionen verfasst, wäre über keine dieser Gruppen in den Abendnachrichten gleichberechtigt neben den jüngsten Börsennachrichten berichtet worden.

Die Erfahrung lehrt, politisch motivierte Gewalt ist durchaus nützlich. Sie weitet den Horizont der Bürger und lenkt ihren Blick über den Rand eigener Befindlichkeiten und Interessen. Und sie befördert die Durchsetzung politischer Anliegen. Bundesaußenminister Joschka Fischer ist derzeit das wohl populärste Beispiel, wie weit man kommen kann, wenn man es versteht, Gewalt zum richtigen Zeitpunkt, richtig dosiert und zielgerichtet einzusetzen. Ohne Straßenscharmützel, ohne schlagkräftige Putzgruppe, ohne die Seilschaften der ehemals militanten Mitstreiter hätte Fischer es ungleich schwerer gehabt, zunächst in der Frankfurter Spontiszene, später dann bei den Grünen die Nummer eins zu werden.

Gewalt mag kein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein, aber zur Mobilisierung sozialer Bewegungen hat sie stets viel beigetragen. Die Studentenbewegung der Sechziger-, die Antiatomkraftbewegung der Siebziger-, die Hausbesetzerbewegung der Achtzigerjahre, aber auch die rechtsradikale Jugendszene Ostdeutschlands – sie alle wurden erst nach Tabuverletzungen mittels Gewalt zu breiten Bewegungen.

Die Aufspaltung, hier die verantwortungslosen Gewalttätigen, dort die friedlichen Demonstranten mit wichtigen und richtigen Anliegen, verkennt die Dynamik sozialer Bewegungen. Zum Beispiel hätte die Fraktion der mehr oder weniger friedlichen Verhandler während der Berliner Hausbesetzungen aufseiten der Herrschenden schwerlich einsichtige Gesprächspartner gefunden, hätten die Nichtverhandler während der Demonstrationen nicht regelmäßig Sachschäden in Millionenhöhe hinterlassen.

Auch die Anti-AKW-Bewegung hat enorme Schubkraft aus den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen um die Bauplätze in Grohnde und Brokdorf bezogen. Es waren Initialzündungen, die die Bewegung nicht spalteten, sondern erst zu einer Kraft formierten, auf deren Basis Peaceniks und Birkenstockfraktion ihren langen Marsch bis hin zum Atomkompromiss antreten konnten.

Wir reden hier nicht über Terrorismus, sondern über Gewalt im Kontext sozialer und politischer Proteste. Und für die gilt zweierlei. Erstens: In der Regel richtet sie sich nicht gegen unbeteiligte Menschen, und die eingesetzten Gewaltmittel werden im Vorfeld intensiv und kontrovers diskutiert. (Eine Ausnahme bilden rechte Bewegungen.) Zweitens: Die Gewalt bricht selten plötzlich aus, sondern hat meist einen jahrelangen Vorlauf. In dieser Zeit haben die Politik und Teile der Gesellschaft, die die Deutungsmacht innehaben, offenkundige Probleme erfolgreich verdrängt. Wenn der britische Premierminister Tony Blair überrascht feststellt, er wisse gar nicht, was an der Globalisierung schlecht sei und wogegen die Menschen demonstrieren, kann das eigentlich nur eines bedeuten: Die Kämpfe gehen weiter.

EBERHARD SEIDEL

Fotohinweis: Eberhard Seidel leitet das Inlandressort der taz