Kader schmiedenfür den Kapitalismus

Die Franckeschen Stiftungen in Halle blicken im Preußenjahr auf Zucht und Ordnung als die Wurzeln der berüchtigten preußischen Tugenden zurück

Für Preußen kam der ökonomische Aufschwung durch die innovativen Techniken der Hugenotten und anderer Glaubensflüchtlinge

von PHILIPP GESSLER

Die Wände und Säulen sind rosa, die Bänke gelb, die Tische altrosa. Braun sind die Salat- und Bratenschüssel, die Teller grau, die Salzfässchen gelb und die Getränkekannen grün. Ein lustiges Internat, könnte man sich denken, waren diese Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale! Doch so sah der Speisesaal der Lateinischen Schule nicht aus – die Farben sind bloß auf einer Planzeichnung aus dem 18. Jahrhundert so festgehalten. Sie zeugen nicht von einer farbenfrohen Lehranstalt, sondern von äußerster Strenge: Zeichen und Überbleibsel eines Anstaltsregimes, das in solchen Plänen samt zentimtergenauen Maßangaben sogar die genaue Anordnung von Tellern, Salzfässchen und Getränkekannen auf den Tischen der Zöglinge festlegte: ein Einblick in die Kaderschmiede eines aufstrebenden Landes.

Diese Geschichte erzählt die Ausstellung „Gott zur Ehr und zu des Landes Besten. Die Franckeschen Stiftungen und Preußen. Aspekte einer alten Allianz“. Über 450 Objekte und Dokumente haben die Kuratoren im Haupthaus eines Gebäudeensembles zusammengetragen, das sich über ein Areal von 50 Hektar mitten in Halle ausbreitet und wie eine Ansammlung frühmoderner Kasernen anmutet. Es ist eine barocke Stadt in der Stadt, die zwischen 1698 und 1750 errichtet und in den vergangenen Jahrhunderten und selbst durch den letzten Krieg kaum zerstört wurde. In den Franckeschen Stiftungen lebten und lernten bis 1946 zeitweise über 2.500 Kinder gleichzeitig. Es waren vor allem Arme und Waisen, die eine strenge, aber offenbar exzellente Ausbildung erhielten. Denn hier, das will die Ausstellung zeigen, liegen die Wurzeln der berühmt-berüchtigten preußischen Tugenden wie Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit und Gehorsam, die dem zersplitterten, armen Land binnen weniger Jahrzehnte einen erstaunlichen Aufstieg ermöglichten.

Im derzeitigen Preußenjahr, 300 Jahre nach der eigenhändigen Krönung des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. zum König Friedrich I. in Preußen, wirft die Schau einen Blick auf die geistigen Grundlagen des preußischen Staates – vor allem auf den Pietismus, der in Halle seine Blüte erlebte. „Preußen in seiner besonderen Ausprägung wäre ohne die Franckeschen Stiftungen zu Halle nicht vorstellbar“, heißt es dazu programmatisch in einem Flugblatt zur Ausstellung. Eine kühne Aussage, die jedoch recht schlüssig untermauert werden kann. Denn Brandenburg war zur Zeit der Gründung der Franckeschen Stiftungen Ende des 17. Jahrhunderts am Boden: Der Dreißigjährige Krieg, der die deutschen Territorien so verwüstet hatte wie keine andere Region Europas, hatte das an sich schon rohstoffarme Herrschaftsgebiet der Hohenzollern für Jahrzehnte zurückgeworfen. Als das Herzogtum Magdeburg mit Halle 1680 dem brandenburgisch-preußischen Adelsgeschlecht zufiel, galt es deshalb, Entwicklungspolitik zu betreiben.

Friedrich III., der spätere Friedrich I., versuchte dies sehr erfolgreich durch die Ansiedlung kluger Köpfe und die Gründung einer Universität in Halle. Dazu holte er den Rechtsgelehrten Christian Thomasius, den Vater des Naturrechts, und den Theologen August Hermann Francke Anfang der 1690er-Jahre in die angehende Uni-Stadt. Francke war von der Uni Leipzig gefeuert worden, da er der neuen protestantischen Glaubensrichtung des Pietismus anhing. Sie forderte eine radikale Reform der lutherischen Konfession, verlangte ein aktives, karitatives Leben und legte die Bibel für die damalige Zeit skandalös modern aus: Bei der Feier des Abendmahls beispielsweise werde im Gottesdienst nicht wirklich Wein in Blut verwandelt, so die Reformierten.

Friedrich III. zeigte sich, wie seine Vorgänger, in religiösen Dingen tolerant – die Aufnahme von 20.000 protestantischen Franzosen, Hugenotten, 1685 in Brandenburg ist legendär. Diese Politik diente zugleich dem Aufschwung, da die Hugenotten wie spätere Gruppen von Glaubensflüchtlingen durch ihre mitgebrachten Techniken einen Innovationsschub ermöglichten – das zur heutigen Zuwanderungsdiskussion in Deutschland.

In diesem Umfeld kam der dynamische Theologe Francke nach Glaucha, einem Dorf vor den Mauern von Halle. Glaucha war das St. Pauli Halles – auf 200 Einwohner kamen drei Dutzend Kneipen. Geschockt von der Verwahrlosung der Kinder nahm Francke 1695 in seinem Pfarrhaus eine erste Waise auf – und errichtete innerhalb weniger Jahrzehnte für hunderte Kinder und Jugendliche eine Schulstadt, die völlig autark war. Der strenge Pädagoge und geschickte Manager, dem Müßiggang, gar Spiel und Fröhlichkeit als erster Schritt ins Verderben suspekt waren, gründete mit Hilfe königlicher Privilegien mehrere Unternehmen, die so erfolgreich waren, dass sich die Stände der Stadt über die Konkurrenz beschwerten.

Das war natürlich durchaus im Sinne des Königs, der dadurch der typisch frühmodernen Form des Kapitalismus im absolutistischen Staat zum Durchbruch verhelfen konnte. Zugleich wuchs in Halle mit den Franckeschen Stiftungen und der in ganz Europa zeitweise äußerst renommierten Universität eine ideale Ausbildungsstelle für Beamte heran, die aufgrund der pietistisch-preußischen Tugenden perfekt im Herrschaftsapparat der aufstrebenden Territorialmacht funktionierten – dieses Wechselspiel zwischen Herrscher und Eliteschule stellt die Ausstellung eindrucksvoll dar.

Einleuchtend wird auch der spätere, langsame Niedergang der Kaderschmiede beschrieben, die im 19. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit und damit ihre spezifisch pietistische Prägung verlor: Bis zum Ersten und Zweiten Weltkrieg wehte noch heftig der preußisch-patriotische Wind durch die Schulstadt in Halle – der christliche Geist aber war verschwunden und damit auch das, was die Stiftungen einzigartig und wohl auch besonders erfolgreich machte. Mit dem Untergang Preußens nach 1945 schlug auch das letzte Stündlein für die Stiftungen. Seit 1991 haben sie jedoch wieder ihre Rechtsunabhängigkeit, heute sind in den nach und nach renovierten Barockbauten unter anderem die pädagogische und die theologische Fakultät der Uni Halle untergebracht. Und wie schon vor 300 Jahren sollen auch heute noch die Stiftungen als Entwicklungsmotor für die Stadt an der Saale dienen.

So wäre eine Reise nach Halle wegen der Ausstellung und der Stiftungen durchaus zu empfehlen – wenn den Machern der Ausstellung bei der Präsentation dieser Geschichte nicht kapitale Fehler unterlaufen wären: Die Vitrinen der Schau sind überladen mit wohl an die zweihundert alten Büchern, die spätestens im dritten Raum nicht mehr sehr eindrucksvoll sind, wenn man Dutzende von ihnen gesehen hat. Viel zu textlastig kommt die Ausstellung zudem daher. Nicht nur junge Besucher werden schnell ermüden, so sie dies alles überhaupt verstehen, denn einiges historisches Vorwissen sollte man schon mitbringen.

Das Schlimmste aber sind die geradezu unglaublichen Lichtverhältnisse in der Ausstellung: Um die alten Folianten nicht zu gefährden, sind die Ausstellungsräume abgedunkelt wie Kinosäle. Nur mühsam sind viele Begleittexte, geschweige denn die Exponate selbst zu entziffern. Wer es in der Ausstellung länger als eine Stunde ohne Gähnen aushält, muss schon fanatischer Religionsgeschichtler oder ein ehemaliger Zögling der Anstalt sein. Das ist schade, da die Ausstellung eigentlich eine spannende Geschichte zu erzählen hat. Wer sie deshalb näher kennen lernen will, dem sei der Kauf des prächtigen Ausstellungskatalogs empfohlen. Das dafür investierte Geld lohnt mehr als die Fahrtkosten nach Halle. Leider.

Ausstellung „Gott zur Ehr und zu des Landes Besten. Die Franckeschen Stiftungen und Preußen. Aspekte einer Allianz“. In den Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale, Franckeplatz 1, Haus 1. Bis zum 28. Oktober. Der Katalog kostet 48 Mark