Bunter Protest von den Alpen bis Sizilien

Weit mehr als 100.000 Menschen gingen in ganz Italien auf die Straße, um gegen das brutale Vorgehen der Polizei zu protestieren

ROM taz ■ Spannung liegt in ihrem Gesicht, als sie zu den in voller Kampfmontur aufmarschierten Carabinieri blickt. „Hoffentlich passiert heute nichts.“ Doch die Polizei ist nur ihre zweite Sorge. „Wenn das die Mamma erfährt! Ich habe ihr gesagt, ich bin bei einer Freundin.“ Höchstens 16 Jahre alt ist das Mädchen. Und zusammen mit ihrer Freundin geht sie zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren – gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei beim Gipfel in Genua.

In ganz Italien brachte das Genoa Social Forum (GSF), die Dachorganisation der Globalisierungskritiker, am Dienstagabend weit mehr als 100.000 Menschen auf die Straße. In Rom, wo das GSF nur 10.000 Demonstranten erwartet hatte, kamen fast 50.000. In Mailand beteiligten sich – je nach Schätzung – bis zu 100.000 Menschen an einem Sit-in vor dem Dom. In Genua füllten mehr als 10.000 Demonstranten die Piazza De Ferrari. Überall trieb der Zorn auf Polizei und Regierung die Menschen auf die Straße – in Bologna (20.000) und Turin (20.000), in Florenz (10.000) und Neapel (15.000), in kleinerer Zahl auch in Triest, Palermo, Bari und Venedig.

Auf der römischen Demonstration war vielen Teilnehmern anzusehen, dass sie gerade aus Genua heimgekehrt waren: Schwellungen im Gesicht, Blutergüsse, Jodflecken auf der Haut, verbundene und vergipste Arme zeugten von den Verletzungen. Viele hefteten sich eine Zielscheibe aus Papier an die Brust. Ein Mädchen trug ein Schild um den Hals: „Ich habe überlebt“.

Immer wieder erinnerten „Mörder, Mörder“-Sprechchöre an den getöteten Carlo Giuliani (siehe oben). Aber es gab noch einen anderen Sprechchor: „Lasst uns nicht allein!“ Eine Sorge, die durch die Demo von gestern entkräftet wurde. Da war wieder das „Volk von Genua“, die „moltitudine“ – die Vielfalt und die Vielen: punkige Jugendliche aus den Centri Sociali neben reifen Kommunisten, hunderte im grünen T-Shirt der Umweltgruppe Legambiente, die „weißen Hände“ der Lilliput-Pazifisten, die Grünen und die Katholiken, Basisgewerkschafter neben Mitgliedern der „offiziellen“ Metallgewerkschaft Fiom.

Aber da waren auch tausende Jugendliche, die noch nie an einer Demo teilgenommen hatten, da waren Männer und Frauen über 50. Eine von ihnen, Beamtin bei der Provinzverwaltung, sagte: „Seit 24 Jahren war ich nicht mehr auf einer Demo. Aber jetzt ist das Maß voll.“ Trotz des massiven Polizeiaufgebots, trotz der mit Tränengasgewehren an der Piazza Venezia im Zentrum Roms aufmarschierten Beamten, trotz der gespannten Atmosphäre ging die Demo friedlich über die Bühne.

Der Zorn wächst jeden Tag – mit jeder neuen Zeugenaussage über Misshandlungen in Genua. Die Demonstranten, die in einem Schulgebäude während des Schlafs überrascht und von der Polizei zusammengeschlagen wurden, sind zum Teil schwer verletzt. Gebrochene Rippen, eine Lungenperforation, ein Junge, der eine Hirnblutung erlitt, Armbrüche. Das deutsche Mädchen, das mit ausgeschlagenen Schneidezähnen in U-Haft sitzt, gehört da noch zu den „leichter Verletzten“.

Auch zahlreiche Menschen, die während der Demonstrationen in der Stadt verhaftet wurden, berichten über schwere Misshandlungen. Die Geschichte ist immer die gleiche: Zunächst wurden die oft schon am Boden liegenden Demonstranten mit dem Schlagstock traktiert. In der Polizeikaserne ging es dann weiter: Stundenlang mussten die Festgenommenen mit ausgestreckten Armen an der Wand stehen. Sie wurden geschlagen, getreten, bespuckt. Einige sagten aus, sie hätten Hochrufe auf den Duce ausbringen müssen. Als die Nachricht vom Tod Carlo Giulianis in der Kaserne eingetroffen sei, hätten die Beamten die Finger triumphierend zum Victory-Zeichen gespreizt.

Immer wieder hörten Parlamentsabgeordnete, die nach italienischem Recht ungehinderten Zugang zu den Gefangenen haben, die gleiche Aussage: „Als ich endlich ins Gefängnis eingeliefert wurde, fiel mir ein Stein vom Herzen. Im Vergleich zur Polizeiwache geht es hier zu wie in einem Hotel.“

Eine lange Liste polizeilicher Ausschreitungen veröffentlichten zudem die Sanitäter des Bündnisses GSF. So sei einer ihrer Busse gestoppt und ein bereits verletzter Demonstrant mit dem Schlagstock verprügelt worden. An anderer Stelle beobachteten die GSF-Sanitäter, wie Polizisten ein Mädchen von einer mehrere Meter hohen Mauer stießen. Obwohl das Mädchen mit einem dreifachen Trümmerbruch des Beins am Boden lag, wurde es weiter geschlagen. MICHAEL BRAUN