einsatz in manhattan
: Europas Lehrer an New Yorks Schulen

Yo, bitte mal das Tipp-Ex!

Die Ordnungskräfte der Sicherheitspolizei stehen überall auf dem Gang, strategisch so positioniert, dass sie einander stets sehen können. Keine Fahrt im Aufzug ohne sie, Treppenhäuser und Klos werden ständig patrouilliert. Um in das Gebäude zu kommen, muss ich nach Vorzeigen meines Ausweises und dem Erhalt eines Besucherpasses erst einmal am Metalldetektor vorbei. Kein Gefängnis dies, sondern die Prospect Heights High School im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Und in den Klassenräumen, deren Türen sich stets nur von innen öffnen lassen, hängt überall das gleiche Poster: „Absolut verboten in der Schule sind: Waffen jeder Art, Reizspray, Handy und Walkman“. Auch Abzeichen und Kopftücher sind tabu – möglicherweise Symbole für die Mitgliedschaft in einer Gang.

Michael Klein aus Köln lehrt hier im dritten Jahr Mathematik. Er hatte sich damals auf eine Anzeige des New Yorker City College gemeldet, das seit 1998 vor allem qualifizierte Lehrer aus Österreich rekrutiert. Denn für naturwissenschaftliche Fächer und Mathematik werden diese vom hiesigen Board of Education händeringend gesucht. New Yorks Lehrer sind schlechter bezahlt als die im benachbarten New Jersey, es fehlt an ausgebildeten Fachkräften, und nur den wenigsten Universitätsabsolventen kann eine Arbeit im durch und durch maroden Schulbetrieb der reichsten Stadt der Welt als Karrieresprung verkauft werden.

Die meiste Zeit muss Klein beim Erklären einfacher Wurzelterme schreien, so laut ist die Klasse der 15- bis 18-Jährigen. „Du musst vorher den Direktor fragen, ob du kommen kannst. Er hat Angst, dass man ihm wegen schlechter Presse sonst noch die Schule schließt“, hatte er mir zuvor am Telefon ausdrücklich mitgeteilt. Von etwa 20 Schülern arbeiten in der ersten Reihe vielleicht drei mit. Viele packen ihre Unterrichtsmaterialien nicht einmal aus, andere haben schlummernd ihren Kopf auf die Bank senken lassen. Ständig will jemand aufs Klo, und als einer den zum Verlassen des Raums erforderlichen Schülerausweis nicht findet, drückt er Klein als Garantie für seine Rückkehr eine schwere Goldkette in die Hand. „Natürlich fragen mich die Kids, wozu sie das alles überhaupt zu lernen brauchen. Ganz einfach: Wenn Sie nicht bestehen, bekommen sie keinen High-School-Abschluss. In dieser Klasse werden höchstens fünf es schaffen, aber keiner von ihnen wird je eine Uni von innen sehen“, erklärt er mir später.

Wer in New York Geld hat, schickt seine Kinder auf private High Schools. Fürs College später gibt es zwar Stipendien, aber die meisten müssen für ihren Universitätsbesuch tief in die Tasche greifen. Die gesamte Polit- und Wirtschaftselite des Landes hat ohnehin an den wenigen, für die Schüler von Prospects Heights unerschwinglichen „Ivy-League“-Unis studiert: Harvard, Princeton, Yale, etc. Da in den USA zwischen Haupt-, Realschule und Gymnasium nicht unterschieden wird und die meisten Tests auf den High Schools lediglich aus dem Ankreuzen der richtigen Antworten bestehen, ist es für das Erlangen der Hochschulreife und die Qualität der zukünftigen beruflichen Laufbahn essenziell, dass man nach Möglichkeit auf einer Schule landet, die Talentförderung betreibt und gebührend auf das weit höhere Lernniveau der Colleges vorbereitet.

Nach dem Unterricht spricht sich Klein den Frust von der Seele: „Das hier ist Steinzeitunterricht. Amerika verspricht, dass jeder im Land seine Chance bekommt. Dabei tut Amerika nur so als ob.“ Alle Schüler in Kleins Klasse sind Schwarze. Die meisten Kinder wachsen nur mit einem Elternteil oder Pflegeeltern auf, alleinerziehende Mütter jonglieren sich mit zwei schlecht bezahlten Jobs durchs Leben und sind morgens schon aus dem Haus, wenn die Kinder zur Schule aufgeweckt werden sollten. „Ich mag die Kinder hier. Nur wenn es Probleme gibt, ist da oft niemand, den ich anrufen könnte“, stellt Klein resigniert fest. Trotzdem will er in New York bleiben: „Eins weiß ich sicher: Wenn ich jemals wieder in Köln unterrichte, werde ich mit der Disziplin bestimmt keine Probleme mehr haben.“

Am selben Nachmittag besuche ich noch eine Klasse der Wienerin Katharina Neuwerth, die seit August letzten Jahres an der Long Island City High School Mathematik unterrichtet. Vom Austauschprogramm des City College, das dieses Schuljahr 31 europäische Lehrer an New Yorker Schulen vermitteln konnte, wurde mir Neuwerth als „besonders zugänglich“ empfohlen. Im Lehrerzimmer und in ihrem Klassenraum hat sie erst einmal Poster der österreichischen Tourismusbehörde aufgehängt: Stephansdom, von halsbrecherischen Skifahrern stiebender Schnee, Hüttenzauber und Alpenglühen – „Austria. Europe with a Difference“. „Am Anfang war hier nur Konfrontation. Als Ruhepunkt mitten im Chaos brauchte ich die Poster an den Wänden“, erklärt Neuwerth, die sich von New York einen Tapetenwechsel versprach. Und die Umstellung war anfangs nicht leicht. Wenn man Worte wie „Yo“ bisher nur aus Rap- oder HipHop-Videos kannte, mutet ein ganz unverfängliches „Yo, bitte mal das Tipp-Ex!“ schon ein wenig fremd an.

Im Vergleich zu Kleins abgewirtschafteter Arbeitsstelle protzt der Vorzeigebau der Long Island City High mit neuester Ausstattung. Hier bleiben die Türen während des Unterrichts geöffnet, Neuwerth kann in normaler Lautstärke unterrichten, und nirgendwo wird auf Postern das Tragen von Waffen verboten. „Hier, das ist deine Waffe“, sagt sie lachend und drückt einem grinsenden Schüler das Lineal in die Hand. An der Tafel geht es heute um das grafische Lösen von Ungleichungen. „Höchstens 20 Prozent meiner Schüler werden den Abschluss packen“, vertraut mir Neuwerth später an. „Die Meisten hocken hier ihre Zeit ab, bis sie zum Arbeiten alt genug sind.“ Ihre Wiener Mitstreiterinnen Conny Chwojka und Sonja Scholz, die ebenfalls an der Long Island High lehren, haben dagegen genug vom Lehrbetrieb in New York. Ab dem nächsten Schuljahr sind sie wieder in der österreichischen Hauptstadt. Das liegt nicht nur am Heimweh, wie Chwojka mich noch übers Telefon wissen lässt: „Die Art und Weise wie man hier unterrichtet, damit kann ich nichts anfangen. Als Lehrer ist man hier zum reinen Wissensvermittler degradiert. Aber wenn die Kinder nicht funktionieren, dann geht es auch für sie nicht weiter“.

THOMAS GIRST

Die Kolumne aus New York wird regelmäßig fortgesetzt