Im Supermarkt des Lebens

Jeden Tag stöhnen wir unter der Vielfalt der Möglichkeiten – und nie sind wir sicher, ob wir richtig gewählt haben. Von der Lust an Optionen, der Last der Entscheidungen und der List der Individuen

von MARKUS SCHROER

„Das ist Ihre Entscheidung!“ – „Das müssen Sie wissen!“ – „Das hängt von Ihnen ab!“

Um was es auch gehen mag: Dem postmodernen Individuum wird zugemutet, über zahlreiche Dinge des Lebens selbst zu entscheiden. Doch bei jeder getroffenen Entscheidung bleibt das beunruhigende Gefühl zurück, eventuell die falsche Wahl getroffen, eine vielleicht aussichtsreichere Alternative nicht ergriffen, eine viel versprechendere Möglichkeit nicht genutzt zu haben. Angesichts dieses Risikos der falschen Entscheidung schlägt die Lust an den Optionen schnell in die Last der Entscheidung um. Die List der Individuen besteht darin, der Lust an den Optionen so weit wie möglich zu frönen und dort, wo sie sich in Entscheidungslasten verwandeln, nach Entlastung zu suchen. Es lassen sich drei Entlastungsstrategien unterscheiden, denen sich wiederum drei Individualitätstypen (idealtypisch) zuordnen lassen:

Das lethargische Selbst versucht sich der Last des Entscheidungsterrors durch die Flucht in die Nichtentscheidung, die Nichtaktivität zu entziehen, bis es in Apathie und Teilnahmslosigkeit zu versinken droht. Es tritt den Rückzug an, lässt sich auf nichts mehr ein, weil die Enttäuschung bereits antizipiert wird, dass auch die neue realisierte Möglichkeit eben nur eine Möglichkeit unter vielen ist und zu ebenso unerwünschten wie unkontrollierbaren Nebenfolgen führen könnte. Diese Mentalität ließe sich als eine Art zurückhaltende Lebensführung bezeichnen: ein Leben auf Sparflamme, ein Dasein in permanenter Wartestellung. Der Held in Walker Percys Roman „Der Idiot des Südens“ wird uns als ein Vertreter dieses Typs vorgestellt: „Er führt ein zielloses Leben, kann sich unter den von der modernen Welt so zahlreich angebotenen Möglichkeiten nicht entscheiden, da er nicht weiß, welche für ihn die richtige ist.“

Das gehetzte Selbst dagegen reagiert umgekehrt mit Hyperaktivität. Für diesen Typus steht paradigmatisch der Fernsehkonsument, der sich zwischen den immer zahlreicheren Kanälen nicht zu entscheiden weiß, deshalb permanent, in immer schnelleren Intervallen zwischen den Programmen hin und her zappt, ohne noch die Geduld aufzubringen, irgendwo für eine gewisse Zeit verbleiben zu können. Das gehetzte Selbst zappt sich gewissermaßen durch den sozialen Raum. Dabei wird es – ob beim TV-Sehen oder bei den Sprüngen von einer Beziehung in die nächste – vom Versuch angetrieben, die chronologische Abfolge der Ereignisse, die Zeit, zu überlisten. Mit anderen Worten: Es versucht, alle sich bietenden Alternativen gleichzeitig zu leben, und stöhnt unter der Belastung, nicht überall dabei sein zu können. Das gehetzte Selbst will gewissermaßen mehrere Leben leben, und das zunehmend nicht hintereinander, sondern gleichzeitig. In Javier Marias’ Roman „Mein Herz so weiß“ gibt es eine Romanfigur, die diesem Typus entspricht. Über sie heißt es: „Er gehörte zu den Menschen, die am liebsten mehrere Leben zugleich leben würden, die sich vervielfältigen und nicht darauf beschränken möchten, nur sie selbst zu sein.“

Und zum Dritten versucht das verunsicherte Selbst der Entscheidungslast durch Übertragung zu entgehen. Die offenbar überforderten Individuen suchen Hilfe bei den zahlreichen selbst ernannten Lebensstilexperten und Ratgebern, die Antworten auf alle Fragen des Lebens zu geben versprechen. Wie man sich für welchen Anlass richtig kleidet, zu welchem Zeitpunkt man Kinder bekommen sollte, wann man eine Beziehung beenden muss oder wie man sie rettet, welchen Beruf man ergreifen soll, wo man seine Ferien verbringt, was man kocht, wenn Gäste kommen – für alles und jedes gibt es Ratgeber. Besonders erfolgreiche Hilfe versprechen Ratgeber, die von prominenten Persönlichkeiten verfasst worden sind – dementsprechend viele gibt es davon. Und wenn gar nichts mehr hilft, bedient man sich einer modernen Form des Orakels, lässt man den Würfel für sich entscheiden, wie es der Held in Luke Rhineharts Kultroman „Der Würfler“ vorexerziert.

Entscheidend ist, dass man mit keiner der erwähnten Strategien den Zumutungen der Individualisierung entgeht: Das lethargische ebenso wie das gehetzte und das verunsicherte Selbst werden für ihre getroffene Wahl dennoch die Verantwortung übernehmen müssen. Denn entschieden haben sie sich alle: Der still Abwartende hat durch den Verzicht auf Entscheidung am Ende die Entscheidung für die Nichtentscheidung getroffen. Der alles Mitnehmende und Ausprobierende hat sich für alles und damit zugleich für gar nichts entschieden. Und der alles auf andere Abwälzende muss die Erfahrung machen, dass die zahlreichen Ratgeber jeden Einzelnen letztlich wieder auf sich selbst zurückwerfen: Ihm wird die Entscheidung nur scheinbar abgenommen. Der Verweis auf andere Instanzen, auf Ratgeber, Experten, das Schicksal, die Umstände oder den Zufall greift in einer individualisierten Gesellschaft nicht. Zur Verantwortung gezogen wird allein das Individuum. Individualisierung ist insofern eine bleibende Zumutung, die je nach Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem und psychischem Kapital unterschiedlich – und immer wieder auf Neue – bewältigt werden muss. Als Modell des guten Lebens taugt sie nicht.

Markus Schroer ist Autor der gerade erschienenen Studie „Das Individuum der Gesellschaft“ (stw, 502 Seiten, 32,90 DM). Er wird von nun an einmal monatlich über das weite Feld der Individualisierung und ihrer Folgen schreiben.