Stilles Gebet an Shakespeare

Kommt ein Bärchen aus Barcelona: Der spanische Regisseur Calixto Bieito bleibt mit „Macbeth“ in Salzburg zwischen Masturbation und Leichenschändung im Furor des Hardcore-Theaters stecken

Die Coolness des Bühnenschocks wird mit cooler Rezeption überboten

von JÜRGEN BERGER

Viel ist gar nicht nötig. Man lasse lediglich einen perversen Priester über einem Frauenskelett masturbieren, und schon bekommt man bescheinigt, man führe seine Schauspieler in ungeahnte Regionen emotionaler Expressivität. Das stimmt insofern, als Schauspieler tatsächlich nicht jeden Tag über Frauenleichen masturbieren. Letztes Jahr während der Edinburgher Festspiele musste es in Calixto Bieitos Inszenierung von Ramón del Valle-Incláns „Barbarischen Komödien“ aber doch sein. Der 38-jährige spanische Regisseur legte sein Gesellenstück als ugly director ab, und das funktionierte prima als Ticket nach Salzburg.

Organisiert hat es der für das Schauspiel der Festspiele zuständige Frank Baumbauer, der im Oktober seine Intendanz an den Münchner Kammerspielen startet. Dort werden dann unter anderem die inszenieren, die er während seiner Salzburger Interimszeit entdeckt hat. Europäischer Regie-Humus wie Luk Perceval, der seine „Schlachten!“ nach Shakespeares Rosenkriegen 1999 in Salzburg zeigte. Und Calixto Bieito natürlich, der jetzt „Macbeth“ inszeniert hat.

Die Festspiele haben gerade erst begonnen, sie wurden mit Christoph Ransmayrs Debüt als Theaterautor eröffnet. Auf Claus Peymanns Uraufführung von „Die Unsichtbare“ reagierte die Kritik allerdings eher ungnädig, während Baumbauer schon langsam zum Abschied leise Servus sagt. Gerard Mortiers Nachfolger auf dem Salzburger Intendantensessel, Peter Ruzicka, scharrt in den Startlöchern. Und für Baumbauer wird ab nächstem Jahr Jürgen Flimm auf Talentsuche gehen. Mit den Talenten ist das allerdings so eine Sache, wie man jetzt im Falle von Bieito sieht.

Der inszenierte in den Neunzigerjahren auf verschiedenen spanischen Bühnen – häufig Shakespeare, aber auch die restliche euroäische Theaterliteratur von Horváth über Molière bis Lorca, Brecht und Kleist. 1999 übernahm er die Leitung des „Theatre Romea“ in Barcelona. Seither reist er auch als Opernregisseur durch Europa: Barcelona, Maastricht, Kopenhagen waren Stationen in den letzten zwei Jahren. An der Welsh National Opera in Cardiff wird es im September seine Inszenierung der „Fledermaus“ geben und in Hannover Anfang nächsten Jahres Mozarts „Don Giovanni“. Anlässlich seines Londoner „Don Giovanni“ wurde der Vielbeschäftigte vom Guardian als Regie-Persönlichkeit beschrieben, die an ein „ungeschminktes und sich verflüchtigendes Hyperaktivitäts-Bündel“ erinnert.

Eine Charakterisierung, die man nicht unbedingt nachvollziehen kann, sieht man Bieito am Ende des Salzburger „Macbeth“ auf der Bühne. Da erscheint eher ein Bärchen, das man vor etwaigen aggressiven Zuschauern in Schutz nehmen möchte und das abends betet: „Ich bin klein, / mein Herz ist rein, / darf niemand drin wohnen / als Shakespeare allein“.

„Macbeth“ hat Bieito nun in einer Art Kleinbürgerloft angesiedelt und die Entwicklung hin zum Königsmord entschieden gestrafft. Hexenszenen etwa gibt es nicht. Dafür stellt Bieito in der großen Halle auf der Halleiner Pernerinsel ein mediterranes Kleinbürgeridyll mit einer aus den Fugen krachenden Großfamilie aus. Die Kinder wurden antiautoritär oder gar nicht erzogen. Roland Renner als King Duncan könnte durchaus eine Nebenrolle in einem Mafiastreifen übernehmen, der Abstieg hin zu Macbeth ist eindeutig: Reicht es bei Duncan noch zum Vorstadt-Padrone, ist Macbeth lediglich ein Gossen-Strizzi. Andreas Grothgar spielt das, ohne groß aufzufallen. Gegen Ende bekam er so viel Text gestrichen, dass er die allmähliche Konfrontation, die er als banaler Mörder und Souverän mit sich selbst auszutragen hat, nicht allzu ausufernd darstellen muss.

Michael Neuenschwander ist eine Banquo an der Hammondorgel und singt Celentano. Nach seiner Ermordung ist natürlich Schluss mit Adriano. Das Fest auf der Wiese geht trotzdem weiter. Es wird viel gegrillt und Anne Tismer ist als Lady Macbeth eine Vorstadtschlampe, die ekstatisch die Hüften zucken lässt. Dazu kreischt sie immer mal schrill, zieht sich zur Entspannung der verkrampften Seele masturbierend auf die Couch zurück und zappelt vor dem definitiven Wahnsinn in einem kurzen epileptischen Anfall. Bieto bietet alles, was die Wundertüte des inzwischen nicht mehr ganz so frischen Hardcore-Theaters zu bieten hat.

Grundsätzlich geht das in Ordnung. Im „Macbeth“ wird ja schließlich keine schottische Idylle verhandelt. In Ordnung geht nicht, dass der spanische Regisseur ansonsten nichts zu bieten hat, außer sich im Provokations-Ranking immer nur selbst zu überbieten. Masturbation und epileptischer Anfall sind natürlich lediglich Vorstufen des definitiven Crashtests. Der kommt mit der Ermordung Lady Macduffs und ihrer Kinder.

Normalerweise müssen zwei Nachkommen dran glauben. Bieito erhöht auf vier und lässt Macduffs Gattin ausgiebig in der Schnur eines Bügeleisens zappeln. Als Leiche wird Katharina Schubert dann auch noch geschändet – Bieito ist endlich am Ziel seiner Träume. „Nein, das geht zu weit“, ruft eine Zuschauerin. Viele gehen. Der Rest überbietet die Coolness der Bühnenschocks mit der inzwischen angesagten Coolness der Rezeption nach dem Motto „Alles schon mehrmals genossen und verdaut“.

Mag sein, dass Bieito so wie viele andere böse Regiebuben auch in Wirklichkeit nur geliebt werden will. Nach seinem Einstand im deutschsprachigen Theaterraum möchte man sich mit der Liebe allerdings noch etwas Zeit lassen und abwarten, ob er weiterhin Provokationspotenziale derart losgelöst vom Regiegegenstand im Raum pendeln lässt.

Am Ende spielt Bieito Nick Cave ein: „When you're sad and when you're lonely / and you haven't got a friend / Just remember that death is not the end.“ Alle Shakespeare-Toten stehen wieder auf und gruppieren sich zu einem Familienfoto. Das ist eine überaus nette Geste des Bärchens aus Barcelona. Nur: Denselben Song und dasselbe Bild hat Leander Haussmann am Ende seiner „Kabale und Liebe“-Inszenierung am Tel Aviver Gesher-Theater verwendet, die gerade anlässlich der Mannheimer Schillertage recycelt wurde. Schon da wirkte das ungemein nett, hatte mit der Inszenierung aber nichts zu tun. Zufälle gibt's.