Bauarbeiter auf der Baustelle Russland

Übers „Überziel“ hinausgeschossen: Alexander Solschenizyns neues Buch „Der russische Weg“ handelt vom Zusammenleben der Völker im Zarenreich. In Russland hat er sich damit den Vorwurf des Antisemitismus eingehandelt. Dabei wälzt er sich – wie immer – nur um ein Thema: die Rettung Russlands

Noch immer steht der Nobelpreisträger hoch im Kurs – selbst Putin konsultierte ihn

von WLADIMIR KAMINER

Der russische Litaraturnobelpreisträger Solschenizyn ist auch mit seinen 83 Jahren noch sehr aktiv. Ein neues Buch von ihm, das gerade auf Russisch erschienen ist, schaffte es in wenigen Tagen auf die obersten Plätze sämtlicher Bestsellerlisten des russischen Buchhandels. Das Buch sei „über Juden“, erzählt man sich überall, und der Verlag, in dem es herauskommt, heißt „Der russische Weg“. Der Verleger behauptete in einem Interview, die Nachfrage werde immer größer, allein in Moskau verkaufe man täglich über 3.000 Exemplare.

Die Rechten und Konservativen in Russland freuen sich über ein Buch „über Juden“. Sie reiben sich die Hände – endlich habe Solschenizyn etwas wirklich Nützliches geschrieben und sei der jüdischen Frage auf den Grund gegangen – der jüdischen Spur in der Oktoberrevolution. Die russischen Linken wollen sich den Autor jedoch nicht nehmen lassen. Sie sagen, dass Solschenizyn eine unbestrittene literarische Größe sei und eine komplizierte Persönlichkeit habe. Außerdem sei das Buch gar nicht eindeutig antisemitisch.

Auch viele Journalisten in Russland freuen sich – sie wittern einen Skandal. Als Erstes gingen sie zum obersten Rabbiner Russlands, Adolf Schaewitsch, um ihn zu dem Buch zu befragen. „Ich kenne Herrn Solschenizyn persönlich und schätze ihn sehr“, so bezog der Rabbiner vorsichtig Stellung, „aber das Buch habe ich noch nicht gelesen. Ich werde es mit in den Urlaub nach Israel nehmen und dort durcharbeiten.“

Der Vorsitzende der „Liga zur Bekämpfung des Antisemitismus“, O. Akselrod, hält zwar das Buch eindeutig für judenfeindlich. Aber so richtig skandalös ist das noch nicht. Weil er sowieso jedes zweite Buch für antisemitisch hält.

Danach gingen die Journalisten zu Solschenizyns erster Ehefrau, Natalia Reschetowskaja, und erkundigten sich, wie es bei ihrem Exmann früher mit dem Antisemitismus aussah. „Als Kind hatte Alexander eine sehr gespaltene Beziehung zu den Juden“, erzählte sie. „Seine Tante, eine sehr religiöse Frau, beschimpfte die Juden immerzu, weil sie Jesus gekreuzigt hätten, gleichzeitig hatte Alexander aber in der Schule und auch später viele jüdische Freunde . . .“

Was ist nun wirklich mit Alexander Solschenizyn los? Das Buch „Zweihundert Jahre zusammen (1795–1995). Teil I“ ist ein typisches Solschenizyn-Buch. Es geht um die Geschichte Russlands und hat mit dem Judentum wenig zu tun. Denn Juden interessieren den Autor genauso wenig wie die Amerikaner oder die Chinesen. Solschenizyn kennt nur ein Thema: Russland. Er hat noch nie über etwas anderes geschrieben.

Besonderes interessiert er sich diesmal für die Zeit der russischen Monarchie. In diesem Zusammenhang meint der Autor: „Der Jude“ lebte unter den Zaren nicht so schlecht, wie es immer behauptet wurde. „Der Jude“ wurde zwar unterdrückt, aber nicht geknickt. Die Entscheidung der Zaren, „die Juden“ in eigenen Siedlungsräumen festzusetzen, findet der Nobelpreisträger aber falsch. Laut Solschenizyn ist die Landwirtschaft „dem Juden“ nämlich fremd – vor allem wenn das Land nicht zu seinem Nationalstaat gehört. Nur in Palästina kann „der Jude“ deswegen das Land mit voller Hingabe bearbeiten. Und deswegen wurde in Russland der Schnapsverkauf zu seinem Haupterwerb. Den Schnaps verkaufte „der Jude“ an „den russischen Bauern“, wobei er ihn völlig ruinierte – und deswegen kamen dann die Pogrome.

Neben solchen originellen Theorien gibt es in dem Buch auch originelle neue Worte – wie in der Kapitelüberschrift „Das russische und jüdische Begreifen vor dem Ersten Weltkrieg“.

Das Schicksal hat Solschenizyn einen bösen Streich gespielt. Er hatte sich immer sehr hohe, quasi unerreichbare Ziele gesetzt – die „Überziele“, wie er sie nannte. Ihm ging es dabei um den Kampf gegen die totalitäre sozialistische Diktatur und um eine grundsätzliche Veränderung Russlands.

Inzwischen gilt es als erwiesen, dass die Veröffentlichung seines Werkes „Archipel Gulag“ im Westen dem Image des Sozialismus einen irreparablen Schaden zufügte, der die Lebensdauer des Systems um gut zwanzig Jahren verkürzte. Eine wohl einmalige Leistung für einen Schriftsteller. Seitdem glaubt Solschenizyn an seine messianische Rolle – als Retter Russlands. Er will seine Mitmenschen nicht mit neuen Bücher erfreuen, sondern zum Beispiel die Landwirtschaft reformieren, indem er darüber schreibt. Denn er weiß, dass es geht – aus eigener Erfahrung.

Der Autor Solschenizyn verwechselt ständig die Kunst mit gesellschaftlicher Arbeit und die Literatur mit Politik. Nicht seine Werke interessieren ihn, sondern ihre Auswirkung – die Veränderung Russlands. Dieselbe Auffassung von Literatur wird von ihm automatisch auch auf alle anderen Autoren übertragen.

Besonderes sichtbar wird dies, wenn Solschenizyn über Gedichte – etwa von Brodsky – schreibt, über Poesie und überhaupt über Dinge, von denen er wenig weiß. In einem Artikel über Brodsky schreibt er: „Jeder Dichter will mit seinen Werken seine Weltanschauung, seine Gefühle und Anstrebungen den anderen mitteilen. Die Gefühle von Brodsky sprechen uns aber nicht richtig an, sie sind so kompliziert ausgedrückt, als ob der Autor sie hinter den Worten verstecken wollte.“

Die Vorstellung, dass man Gedichte schreiben kann, nicht um die Gefühle auszudrücken, sondern um sich von diesen Gefühlen zu befreien, ist für Solschenizyn fremd. Was sucht er bei Brodsky? Seine Stellung zu Russland, zu den Juden, zur Demokratie und zum Christentum. Und alles, was er zu diesen Themen bei Brodsky findet, ärgert ihn.

Über Tschechow äußerte Solschenizyn einmal, er habe immer nur das russische Kleinbürgertum beschrieben und dem Bauer, dem Ernährer Russlands unter den Zaren, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Tschechow würde das Dorfleben des alten Russlands nicht kennen, schrieb er. Diese Kritik wirkt besonders absurd, wenn man bedenkt, dass Solschenizyn erst 1918 geboren wurde und sicher das Dorfleben zur Zarenzeit weniger als Tschechow kennt.

Als Nobelpreisträger genießt Solschenizyn in Russland einen besonderen Status – jedes von ihm beschriebene Stück Papier wird sofort gedruckt. Und er versteht sich immer nur als ein Bauarbeiter auf der Baustelle des neuen Russlands – nicht als Literat. Als Jelzin Präsident war, hatten sich beide mehrmals getroffen. Der neue russische Präsident Putin fuhr auch gleich, nachdem er gewählt worden war, zu ihm. Sie sprachen drei Stunden lang unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Was haben sie einander erzählt? Alte Judenwitze? Wohl kaum. Es ging um die Rettung Russlands.

Nun ist seitdem schon wieder ein Jahr vergangen. Immer wieder wird Solschenizyn von den Journalisten gefragt, was er denn damals Putin so alles erzählt habe. „Haben Sie ihm geraten, Tschetschenien auszuradieren? War es Ihre Idee, alle Fernsehkanäle zu verstaatlichen?“, fragen die Journalisten. Solschenizyn guckt dann immer sehr böse und bemüht seine Schriftstellerimmunität. „Nein, nein, ich habe ihm was ganz anderes empfohlen, aber die Politiker hören mir nicht zu. Ich bin ja nur ein Autor – meine Arbeit ist es, Bücher zu schreiben.“ Er selbst glaubt trotz allem nicht daran, dass er nur ein Autor ist, und verfolgt seine Überziele weiter.

Ganz anders verhält er sich da als etwa der Schriftsteller James Joyce. Der arbeitete zwanzig Jahre lang an seinem zweiten Roman – und wurde 1939 damit fertig, exakt zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die ganze Welt versank in einem blutigen Gemetzel, und Joyce war sehr beunruhigt: „Was wird nun aus meinem Roman?“, fragte er.