Von der ersten Geige zur vollen Stadionrunde

Der 400-Meter-Läufer Ingo Schultz kam erst mit 23 zur Leichtathletik und startet bei der morgen beginnenden Weltmeisterschaft in Edmonton

HAMBURG taz ■ Das Stadion, in dem der Hamburger 400-Meter-Läufer Ingo Schultz trainiert, galt einmal als „Norddeutschlands schönste Sportanlage“. So jubelte jedenfalls Die Welt 1950. Heute blüht das Gras auf den Stehrängen des Billetal-Stadions, gelegen im Osten der Stadt, die Fahnen an den Mästen – die eine schwarzrotgold, die andere mit dem Hamburg-Wappen – wirken so zerschlissen, als habe ein Punk-Modedesigner Hand angelegt, und auf dem Grandplatz der Arena, die einst rund 30.000 Zuschauer fasste, spielt alle 14 Tage ein Kreisklassenklub, den Übersiedler aus der ehemaligen Sowjetunion gegründet haben.

Diese für Spitzenleichtathletik unkonventionelle Umgebung passt gut zu Schultz’ unkonventionellem Werdegang als Sportler – wenngleich der betont, dass er seine bis zu acht Trainingseinheiten pro Woche auch noch an anderen Orten absolviert. Erst 1998 hat der deutsche Jahresbeste über 400 Meter begonnen, diese Disziplin systematisch zu trainieren; bis dahin war ihm die Welt des Leistungssports vollkommen fremd gewesen.

Der 26-Jährige gehört nun zu jenen Läufern, die Anlass zu der Hoffnung geben, die morgen in Edmonton beginnende Weltmeisterschaft werde positiv in die Annalen der deutschen Leichtathletik eingehen. Jahrelang sah es so aus, als würde Schultz eine gewisse Berühmtheit lediglich als Mitglied des Kammerorchesters Lingen erreichen, wo er die Geige strich. Dabei sieht Schultz beileibe nicht so aus, wie man sich einen feinfühligen Violinisten vorstellt: Er ist 2,01 Meter groß und mit 98 Kilo so schwer wie kein anderer 400-Meter-Läufer aus der internationalen Spitzenklasse.

Sein Leben änderte sich völlig, als der vorher nur sporadisch als Freizeitsportler aktive Emsländer Ende 1997 in die Leichtathletik-AG der Bundeswehr-Universität Hamburg eintrat, an deren Institut für Elektronik er mittlerweile als Doktorand arbeitet. Jürgen Krempin, der Lehrbeauftragte für Sport, entdeckte die Fähigkeiten des Riesen und trainierte ihn fortan. Ende April 1998 lief Schultz 52,5 Sekunden, fünf Monate später schon drei Sekunden schneller. 1999 steigerte er sich schließlich auf 45,99 Sekunden. „Eigentlich ist das unvorstellbar, so etwas hat es vorher noch nie gegeben“, sagt Krempin. Die Entwicklung seines Schützlings zeige unter anderem, „dass unser Auswahlsystem Schulsport nicht funktioniert“. Den Lehrern war das Talent nie aufgefallen.

Krempin trainiert mit Schultz vor allem 100- und 200-Meter-Sprints. „Wir bauen von unten auf“, sagt der Coach. Die Trainer anderer 400-Meter-Läufer setzten dagegen überwiegend auf so genannte harte Umfänge, also 10 mal 600 oder 5 mal 800 Meter mit kurzen Pausen zwischendurch. „Das geht nur mit Athleten, die seit zehn Jahren dabei sind. Wir machen so etwas auch, aber nicht so intensiv.“

In der bereinigten Weltjahresbestenliste – hier sind nur die jeweils drei stärksten Läufer eines Landes verzeichnet, weil bei einer WM ohnehin nicht mehr starten können – belegt Schultz derzeit mit 45,27 Sekunden den 21. Platz. Als leichten Favoriten sieht er Avard Moncur von den Bahamas, der in diesem Jahr 44,45 Sekunden gelaufen ist. „Aber weil Michael Johnson nicht mehr läuft, ist das Rennen sehr offen.“ Was die eigenen Ansprüche angeht, gibt sich Schultz locker: „Im Rahmen der Bestzeit laufen“ will er, außerdem „die Atmosphäre eines großen internationalen Wettkampfs schnuppern“. Größer ist der Druck da schon in der 4-mal-400-Meter-Staffel. Hinzu kommt, dass, so Schultz, der Verband „da ganz genau hingucken wird“. Die Funktionäre ermöglichten den Start nämlich erst durch eine Art Gnadenakt, nachdem das Quartett die WM-Norm verfehlt hatte.

Seine beiden großen Ziele hat Ingo Schultz mittelfristig formuliert. Da sind einmal die Olympischen Spiele im Jahr 2004, weil er dann vermutlich den Höhepunkt seiner läuferischen Entwicklung erreicht haben wird. Und ein Jahr später soll die Doktorarbeit fertig sein. Das Thema, auch nicht gerade konventionell: organische Transistoren auf Polymerbasis. RENÉ MARTENS