Und sonntags Krähensuppe

Volker Koepps „Kurische Nehrung“ verklärt das Leben der Bewohner in einer historisch aufgeladenen Landschaft

Eine bewegte Gegend: An der handtuchschmalen, hundert Kilometer langen Landzunge nagen Ostsee und Haff, dauernder Wind treibt Wanderdünen durch Dörfer, dramatische Himmel verschieben stündlich die Naturkulisse. Nicht nur geografisch, auch geopolitisch ist die Kurische Nehrung unruhigem Wandel ausgesetzt. Ehemals ostpreußisch, wird ihr nördlicher Teil nach dem Ersten Weltkrieg litauisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehört sie zur Sowjetunion und ist seit 1990 durch eine russisch-litauische Grenze geteilt.

Ihre Bewohner verpflichten sich der unsteten Region durch Sprache und Erinnerungen. Seit die Touristen kommen, ist neben Russisch und Litauisch wieder verstärkt Deutsch in Gebrauch. Die Erinnerungen der Älteren erzählen von Heimatverlust: Vertriebene, nun zu Gast an den Stätten der Kindheit, Deutschstämmige, die auf der Flucht hier hängen geblieben sind, zwangsumgesiedelte Sowjetrussen. Vor der Kamera schwärmen alle von der „guten alten Zeit“. Die Schönheit dieser Landschaft, an der Schnittstelle der Elemente, scheint viele mit einem bitteren Schicksal zu versöhnen. Zumindest behauptet das Volker Koepps neuer Film „Kurische Nehrung“. Langsame Schwenks über Dünen, Standbilder der Nehrung bei Tagesanbruch, Sonnenuntergang und Vollmond, im Wechsel mit Interviews, die einige Bewohner porträtieren.

Da ist die Straßenkehrerin Renate, die bei Pflegeeltern aufwuchs, weil die eigene Mutter 1945 starb und der Vater nie wieder aus Deutschland zurückkehrte. Als sie ihn 1990 endlich besuchen kann, begegnet sie einem Fremden, der von den 100 Mark Begrüßungsgeld ihre Rückfahrkarte kauft. Da ist der russische Filmvorführer, der kein Publikum mehr hat und für sich allein den ersten Akt von Fassbinders Lieblingsfilm „Kalina Krassnaja“ einlegt. Koepp lässt sie sprechen über Vergangenes und Zukunftswünsche, beschneidet ihr Schweigen nicht und nicht die Momente, in denen sie sich charmant verplappern. „Mein Mann ist ein harter Apfel“, sagt Renate in lustigem Deutsch.

Aber so wenig die Bilder von Kameramann Thomas Plenert über Postkartenidylle hinausweisen, so wenig gelangt Koepp hinter die Alltäglichkeit, die von den Menschen beansprucht wird. Das würde nicht stören, schliche sich über dampfenden Teekesseln und eingeweckten Himbeeren nicht der Eindruck ein, Koepp arbeite seinerseits an der Verklärung des bescheidenen, naturnahen Lebens, an dem die gesellschaftlichen Katastrophen irgendwie vorbeiziehen.

Nostalgisch inszeniert er Renate und ihren Cousin beim „Krähenziehen“, das den Speiseplan ihrer Jugend anreicherte und Königsberger Restaurants die Spezialität „Hafftauben“ bescherte. Welche Not herrschen muss, wenn Krähensuppe als Sonntagsessen gilt, fragt Koepp nicht. Stattdessen schwelgt er in Lokalkolorit: In der Vogelwarte beringen geschickte Hände hunderte Schwanzmeisen und werfen sie aus dem Fenster - kleine Schneebälle, die in die Abendsonne flattern. Seemannsbärtige Fischer fummeln Zander aus den Netzen und schweigen knurrig.

Rückblickend wird deutlich, welcher Glücksgriff Koepp mit „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ gelang, den blitzgescheiten, eigensinnigen Persönlichkeiten seines letzten Films, die eher ihn zum Interview bestellten denn umgekehrt.

In „Kurische Nehrung“ laufen Koepps Fragen ins Leere. Ob sie es nicht merkwürdig finde, dass dieser enge Landstrich von einer Grenze durchschnitten sei, will er von einer jungen Bernsteinverkäuferin wissen. Sie ist verunsichert. Er wiederholt die Frage mit klugescher Penetranz. Sie überlegt und antwortet schließlich: „Nein. Vielleicht ist das gut. Dann bekommen alle etwas ab.“ An solchen Stellen wird der Film dann folgerichtig überholt von der Normalität, die er einfordert.

URS RICHTER

„Kurische Nehrung“. Regie: Volker Koepp. Deutschland 2001, 92 Minuten