SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHEN VON CHRISTOPH WAGNER
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Teodoro Anzellotti

Domenico Scarlatti: Vivi Felice! (Winter & Winter 910062-2)

Als relativ junges und anrüchiges Musikinstrument hatte das Akkordeon in der E-Musik lange einen schweren Stand. Weil es von seriösen Komponisten übergangen wurde, herrschte ein Mangel an interessanter Notenliteratur. Notgedrungen wandten sich viele Akkordeonisten der Vergangenheit zu, wo sie vor allem in der Barockära fündig wuden: Die Tastenmusik des 18. Jahrhunderts erwies sich für das Piano-Akkordeon als besonders geeignet.

Einer der Cembalo-Großmeister der Barockära war der Italiener Domenico Scarlatti (1685–1757), der im selben Jahr wie Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel geboren wurde. Scarlatti, dessen Spiel einmal verglichen wurde mit „tausend Teufeln“, frappierte durch seine Improvisationsgabe und Fingerfertigkeit. Da er am liebsten ad libitum, also aus dem Stegreif, spielte, brachte er die meisten seiner Kompositionen, die vor technischer Raffinesse nur so strotzen, erst im letzten Abschnitt seines Lebens zu Papier. Mit Leichtigkeit und Souveränität gelingt es Teodoro Anzellotti, der bislang vor allem als Avantgardist hervorgetreten ist, die mehr als 350 Jahre alten Stücke seines italienischen Landsmanns auf so überzeugende Weise zu intonieren, als wären sie fürs Akkordeon geschrieben worden.

Luigi Russolo

Die Kunst der Geräusche(Edition Neue Zeitschrift für Musik. Buch-CD Wergo/Schott T 5142; Postf. 36 40, 55026 Mainz)

John Zorn, Einstürzende Neubauten, Hafler Trio, Zoviet France, Throbbing Gristle – die Liste seiner geistigen Enkel ist lang. Luigi Russolo besitzt nicht nur unter den Experimentalkünstlern der Popszene eine starke Anhängerschaft, sondern gilt als Urvater der Geräuschkunst schlechthin. 1913 verfasste er in gutfuturistischer Manier ein Manifest, das die theoretische Grundlage für eine neue Kunst der Geräusche liefern sollte und seiner Begeisterung für die lärmende Moderne Ausdruck gab. Russolo war ein Geräuschfetischist, der sich am Lärm berauschte.

Um diese Geräusche zu einer futuristischen Musik zu ordnen, konstruierte er so genannte Geräuschintonatoren verschiedenster Kategorien: Heuler, Dröhner, Klirrer, Scharrer, Knaller, Gurgler, Summer und Zischer. 1914 stellte er in Mailand die Lärmmaschinen erstmals der Öffentlichkeit vor, was nicht ohne Zwischenfälle verlief. Das Konzert wurde gestört und endete in einer Saalschlacht zwischen Futuristen und Traditionalisten. Russolo ließ sich nicht beirren und verfeinerte seine Konzeption, die allerdings im Ersten Weltkrieg eine zweifelhafte Wendung erfuhr, als er – der wunderbaren Geräusche wegen – das Schlachteninferno emphatisch begrüßte.

In Form einer Buch-CD ist jetzt erstmals Rusollos Manifest aus dem Jahr 1913 in deutscher Übersetzung erschienen. Johannes Ullmaier hat dazu ein Nachwort verfasst, in dem er die bewegte Rezepetionsgeschichte des bahnbrechenden Dokuments nachzeichnet und aktuelle Bezüge herstellt.

Embryo

2000 Live, Vol.1 (Schneeball/Indigo 97532)

Für Embryo ist Weltmusik kein Genre, sondern ein Lebensstil. Seit über dreißig Jahren zieht der Münchner Multiinstrumentalist Christian Burchard mit seiner bunten Truppe durch die Welt, um – wo immer möglich – mit einheimischen Musikern zu spielen, ob in Afrika, dem Maghreb, dem Nahen Osten oder Indien. Meistens bietet die Improvisation eine Plattform, die das Zusammenspiel ermöglicht.

Letztes Jahr führte Embryos Nomadenreise nach Istanbul, wo mit Izet Kizil (Trommel), Murat Ertel (Saz) und Shariff, dem Meister auf der Längsflöte Kaval, gejammt wurde. Darüber traf sich die Band mit dem südindischen Trommler Karuna Murty, der als Meister der uralten Karnataka-Musiktradition problemlos die komplizierten Rhythmen zu entschlüsseln wusste, die ihm die Embryo-Musiker vorgaben. So entstand eine Musik, die durch die Kühnheit der Improvisation und die Vielfalt der Klänge gelegentlich an die kosmischen Sounds des legendären Sun Ra und seines Arkestras erinnern, der ja auch bei den Pyramiden spielte.

Culture Musical Club

Taarab Instrumentals from Zanzibar (Dizim Records 4509; Postf. 10, 79672 Todtnauberg)

Das Wort „Taarab“ stammt aus dem Arabischen und bezeichnet das Gefühl der Verzückung und Verzauberung durch Musik. In Ostafrika gibt der Terminus seinen Namen einem Genre, das stark von arabischen Klängen geprägt ist und sein Zentrum auf der Insel Sansibar im Indischen Ozean hat. Dort hatte einst der Sultan von Oman seinen Sitz, der nicht nur Musiker nach Ägypten schickte, um sie arabische Musik und Instrumente erlernen zu lassen, sondern auch ägyptische Musiker und Musikgelehrte an seinen Hof holte, was zur Verbreitung arabischer Klänge entlang der ostafrikanischen Küste beitrug.

Anfang des 20. Jahrhunderts regte der Sultan die Gründung von Musikklubs an, um das Spiel auf klassisch arabischen Instrumenten zu pflegen. Der Musikklub „Mila na Utamaduni“, der sein Domizil in einem Haus in der Altstadt von Zanzibar City hat, bildet heute eine der Hauptstützen der Taarab-Tradition. Abends, nach dem Ruf des Muezzins, treffen sich dort die mehr als zwei Dutzend Mitglieder zur Probe. Der Rhythmus fließt gemächlich dahin, während die Streichergruppe ein faszinierendes Wechselspiel mit der Qanun-Zither, der Ney-Flöte oder der Ud-Laute beginnt. Die Luft ist heiß, vom Indischen Ozean weht eine frische Brise herüber, und manchmal hört man durch die orientalischen Klänge hindurch einen Motorroller durch die engen Gassen der steinernen Altstadt knattern.

Mike Svoboda

Power and Poetry (d’c records/Jaro d’c 12)

Mike Svoboda ist der Weltmeister der Posaune in der Neuen Musik. Der Amerikaner, Jahrgang 1960, lebt seit zwanzig Jahren in Deutschland und hat intensiv mit Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet. Auf seinem Instrument zeigt er die verrücktesten Töne, was zahlreiche Komponisten der Avantgarde dazu angeregt hat, neue Werke für ihn zu schreiben. Svoboda verwendet nicht nur Spaltklänge, Intervalle, Obertöne und mehr als zwanzig verschiedene Dämpfer, sondern bezieht in die Ausdruckspalette der Posaune auch Geräusche ein.

Neben mittlerweile klassischen Avantgardewerken für Soloposaune von Giacinto Scelsi, Lucio Berio, Morton Feldman und Iannis Xenakis, die durch ihre Klarheit und Einfachheit bestechen, präsentiert Svoboda einige mehrstimmige Kompositionen, die er selbst entworfen und mit Hilfe des Mehrspurverfahrens im Studio realisiert hat. Als Ausgangsmaterial dienen ihm Aufnahmen der Stimmen besagter Komponisten, deren Sprachduktus er instrumental aufnimmt, weiterführt und konterkariert.

So entsteht eine Neue Musik, die sinnlich, spielerisch, witzig und abenteuerlich zugleich ist und nichts von der Verbissenheit besitzt, die gelegentlich dem Genre anhaftet.

Low

Things we lost in the fire (Tugboat Records TUGCD027)

Rock lebt von der Lautstärke! Diesen Glaubenssatz unterläuft die US-Band Low, gegründet 1994 auf dem Höhepunkt der Grunge-Welle. Das Trio aus Duluth/Minnesota ist die leiseste Rockband der Welt, und bis heute sind das Ehepaar Mimi Parker (Drums, Gesang) und Alan Sparhawk (Gitarre, Gesang) sowie Bassist Zak Sally der Dezibel-Abstinenz treu geblieben.

Im Flüsterton gehauchte Melodien in zweistimmiger Harmonie geben ihren Songs eine Eindringlichkeit, wie man sie selten findet. Hast und Hektik liegen dieser Musik fern; sie atmet die ruhige Gelassenheit und Weite des amerikanischen Mittelwestens. Man nimmt sich Zeit für Pausen, für lang nachhallende Akkorde, für fast endlose Wiederholungen. Nur nicht von einem Riff zum nächsten hetzen, sondern das Potenzial einer Songidee voll ausschöpfen. Eine asketische Grundhaltung bestimmt den Umgang mit den Tönen: Keine Note wird verschenkt, und Einfachheit verwandelt sich in Schönheit, die durch den verwaschenen Sound manchmal eine geradezu mysteriöse Qualität erhält.

Ausgerechnet der Nirvana-Produzent und Grunge-Tonmeister Steve Albini hat das Album aufgenommen, und es scheint, als hätten Low keinen einfühlsameren Soundingenieur finden können. Manchmal stimmt es also doch, dass sich Gegensätze anziehen.

The Holmes Brothers

Speaking in Tongues (Alligator Records ALCD 4877)

Sie sind die Matadore der verrauchten Bars und Raststätten entlang der amerikanischen Überlandstraßen. Seit mehr als vierzig Jahren sind Sherman und Wendell Holmes „on the road“, und so locker und überzeugend wie diese Schwerarbeiter des „Deep Funk“ schüttelt niemand die unterschiedlichen Songformen des schwarzen Südens aus dem Ärmel.

Ob Spiritual, Gospel, Blues, Ryhthm & Blues, Soul oder Funk – alles verschmelzen sie zu einem Sound, der Charakter und eine Selbstverständlichkeit besitzt, die nur durch jahrelange Praxis reift. Religiöse Gesänge genießen im ihrem Repertoire einen besonderen Stellenwert, was nicht verwundert, da die Brüder mehr oder weniger in einer Baptistenkirche großgezogen wurden.

Die Ryhthmusgruppe zelebriert den schmutzigsten Groove jenseits von Memphis, die Gesangsstimme schnappt vor Inbrunst ins Falsett und die Gitarre träufelt ein paar bluesgetränkte Akkorde ein. Von der Decke der Fernfahrerkneipe tropft das Kondenswasser, das Publikum tanzt in verschwitzten T-Shirts durch die Bierlachen am Boden, und während sich die Körper aneinander reiben, singen die Backgroundsängerinnen in Engelsharmonien um Vergebung. In diesem Milieu ist Jesus dein Tresenkumpel und zeigt Nachsicht mit den kleinen Sündern. Die Holmes Brothers erteilen die Absolution.