Philosophisches Wandern

Menschen in unrichtiger Atmosphäre: War Wittgenstein mit seiner Zivilisationskritik ein Vorreiterin Globalisierungsfragen? Kirchberg richtet das Symposium zum 50. Todestag des Denkers aus

von NICOLE L. IMMLER

„Philosophenrummel“ hatte es Ludwig Wittgenstein verächtlich genannt und lebenslang gemieden – den akademischen Betrieb und seine Ausleger, wo neben inhaltlicher stets auch soziale Kompetenz neu verhandelt wird. Dass nun jahraus, jahrein eine Konferenz unter seinem Namen tagt, ist eine Ironie, die ferienhungrige Wissenschaftler freilich geflissentlich ignorieren. Ferien! Dazu von dritter Hand organisiert und inhaltlich anspruchsvoll, was kann es Besseres geben?

In intelligenter Koketterie mit der Wiener Sommerfrische bietet also Kirchberg am Wechsel, eine kleine Marktgemeinde in Niederösterreich, neben Abgeschiedenheit und Panorama jeden August ein Internationales Wittgenstein-Symposium an. Seit 1974 Sitz der Österreichischen Wittgenstein-Gesellschaft, mauserte sich der kleine Bergort zum Pilger-Eldorado für Wittgenstein-Schüler, philosophische und materielle Nachlassverwalter sowie für Querschläger aus anderen Disziplinen.

Längst zählt Kirchberg zu den heiligen Orten österreichischer Identität. Und heuer, in der Woche vom 13. bis zum 18. August, gibt es seit langem wieder Wittgenstein en totale: über zweihundert Vortragende an sechs Tagen, in sechs parallel geschalteten Panels zu Person, Werk und Kontext des Einen. Schließlich hat er in diesem Jahr seinen 50. Todestag.

Die Entstehungsgeschichte des Symposiums kann im Kontext der Achtzigerjahre und dem Trend nach nationaler Selbstvergewisserung gelesen werden. Das auflebende Interesse am „österreichischen Gedächtnis“ dokumentieren auch Forschungsprojekte insbesondere am Sozialhistorischen Institut der Universität Wien, an der Akademie der Wissenschaften und am Institut für Kulturwissenschaften in Wien. Aber so wie manche dieser Projekte nicht gegen den Vorwurf, die Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts fortzustricken, erhaben sind, entgeht auch Wittgenstein schwer dem virulenten Interesse an der Fixierung seiner philosophischen Tradition wie seiner geografischen Zuordnung.

Auch wenn Wittgenstein an den Ökonomen Maynard Keynes schrieb, „der Philosoph ist kein Vertreter einer Denkgemeinde“, die philosophische Nachwelt verlangt nach Zuordnungen. War es das Wiener Fin de Siècle in seiner Morbidität, welches den Spross aus der reichen Wiener Stahlmagnatenfamilie ins puritanische England, in die empirische Tradition eines Hume und den Liberalismus eines Keynes, vertrieb? Oder sind nicht doch Anzeichen einer „Re-Austrification“ in Wittgensteins späterem Werk zu erkennen?

Auch im vergangenen September im englischen Traditionsseebad Brighton, auf dem Kongress zum Thema „Intellectual Migration and Cultural Transformation“, beschäftigte Wittgensteins duale Existenz zwischen England und Österreich, zwischen akademischer Lehrverpflichtung in Cambridge und Leben in der Familie in Wien, die Gemüter. War die Sprache, in der er dachte und arbeitete, Deutsch, gewährte das universitäre Leben am Trinity College in Cambridge das notwendige Maß an Freiheit.

Für Wittgenstein selbst war das richtige Umfeld ein lebenslanges Thema. Ob das biografische oder das philosophische „Wandern“, es ist mehr als nur eine Metapher, wenn Wittgenstein schreibt: „Bring den Menschen in die unrichtige Atmosphäre und nichts wird funktionieren, wie es soll. Bring ihn wieder in das richtige Element, und alles wird sich entfalten und gesund erscheinen.“ Er litt, wie seine Schwester Hermine in den Familienerinnerungen schreibt, von Kindheit an „fast krankhaft schmerzlich unter jeder ihm unkongenialen Umgebung“. Das zeigt Wittgensteins Briefwechsel aus den verschiedenen Lebensphasen. Da ist sein Leiden als Volksschullehrer in Otterthal ebenso wie sein Unbehagen gegenüber der High-Table-Society in Cambridge, wo er seit 1929 die meiste Zeit verbrachte. Wittgenstein fühlte sich überall fremd, was nicht geografisch bedingt war, sondern mit dem Gefühl zu tun hatte, nicht verstanden zu werden.

Fremd waren Wittgenstein auch jene Festschreibungen des Jüdischen, die ihn nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland im März 1938 zwangen, zur englischen Staatsbürgerschaft zu wechseln, wie es in seinen Manuskripten heißt: „. . . weil ich in Österreich nicht arbeiten könnte und arbeiten muss, um leben zu können, ich meine: um bei Verstande zu bleiben. Ich werde daher im Ausland leben müssen.“

Bereits Ende der Zwanzigerjahre formulierte Wittgenstein seine Gedanken über das „Jüdisch-Sein“ wie zum Schreiben einer Autobiografie als eine Art Suche nach Heimat. Aber es ist eine Suche, die ausschließlich einem moralisch-ethischen Verlangen nach Klarheit und Wahrheit über sich selber folgt und keine historische Dimension einer Verwurzelungsstrategie hat, wie etwa die Wittgenstein’schen Familienerinnerungen meinen, die seine Schwester Hermine in den Jahren von 1944 bis 1949 verfasst. Zeigen jene das Bedürfnis nach eindeutiger Identität („die Wittgensteins“) und Zuordnung („wir Österreicher“), ist es nur diese lose Verbindung der Verankerung in der „Kultur als Lebenswelt“, der sich Wittgenstein anschließt. Und wenn Wittgenstein es „Ausland“ nennt, wofür er sich entscheidet, dann weil er sich als Teil einer österreichischen Kultur versteht.

Doch auch jenes „Österreichische“ scheint ihm etwas nur schwer Greifbares zu sein, wie es in den „Philosophischen Betrachtungen“ heißt: „Ich glaube, das gute Österreichische (Grillparzer, Lenau, Bruckner, Labor) ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit.“

Moritz Csáky vermutet anlässlich der Verleihung des Vogelsang-Staatspreises 1998 in der Erkenntnis dieser ambivalenten Offenheit, die das „Österreichische“ letztlich bestimmt und daher schwer fassbar macht, wiederum etwas spezifisch Österreichisches. Hier wird Wittgenstein zum Verteter einer Mehrfachkodierung, die das Nationale als zu kurz greifend deklariert, insbesondere im Kontext der durch Vielfalt der Völker, der Sprachen, der kulturellen Symbole, der staatlich-verfassungsmäßigen Struktur charakterisierten Österreichisch-Ungarischen Monarchie.

So war man sich auf dem Frühjahrsworkshop zu Gedächtnisorten an der Akademie in Wien einig: Die „kulturellen Codes“ einer Gesellschaft sind nicht national, sondern grundsätzlich transnational angelegt und haben auf Grund der kulturellen Einbindung in übergeordnete Traditionen gesamteuropäische Relevanz. Das stellt die Vorstellung von einem geschlossenen kulturellen System in Frage – und gibt dem Forschungsfeld Ludwig Wittgensteins neue Impulse.

Vor diesem Hintergrund einer zentraleuropäischen Sozialisation analysiert auch Ernest Gellner Wittgenstein in seinem letzten Werk „Language und Solitude“ (1998) und wendet sich gegen die wienspezifische Rekontextualisierung Wittgensteins. Sind die Zeiten von „Wittgensteins Wien“, wie von Stephen Toulmin und Allan Janik formuliert, oder einer Österreichischen Philosophie, wie es Rudolf Haller meint, um? Oder sind wir nur in das Zeitalter neuer Kategorien getreten, dem des Europäischen, Transnationalen und Überregionalen?

Daniel Steuer von der Universität Sussex hat den Gedanken bereits formuliert. Er sieht Wittgenstein mit seiner Zivilisationskritik als Vorreiter in Globalisierungsfragen. Vielen anderen gilt Wittgenstein nach wie vor als typischer Vertreter eines deutsch-österreichischen Kulturkonservativismus. Wie sich das mit Wittgensteins postmoderner Vereinnahmung verträgt, daran wird noch geforscht. Was in Kirchberg dazu zu erfahren sein wird, darauf darf man gespannt sein. Jede Gesellschaft entdeckt eben ihren Wittgenstein, sobald sie in seinen Problemen die eigenen entdeckt.

Wer Erkenntnis sucht, dem hilft nur mehr beste englische Tradition, das Zurück zur Empirie: der Besuch eines Ortes des „tatsächlichen“ Geschehens, im zehn Kilometer entfernten Trattenbach. Dort steht das Haus, in dem Wittgenstein lebte, als er von 1920 bis 1922 an der Volksschule unterrichtete. 1989 richtete die Ludwig-Wittgenstein-Gesellschaft diesen Gedenkraum ein, der 1999 neu gestaltet wurde.

Betritt man den Pfad zum Schulhaus, gesäumt mit „Tractatus“-Sätzen und gottesfürchtigen Zitaten, ist der Pilgerweg perfekt. Ein beruhigender Zufluchtsort vor dem oft skurrilen Aneinandervorbeireden, den Belanglosigkeiten der Abstraktion und der Schwindel erregenden Höhe der Theorie, von der aus sich tief fallen lässt.