Die fremde Schwester

Abschied von den Eltern light: Irene Weiss-Eklund erzählt ihr Leben. Von hysterischen Lachanfällen in der Kindheit geht der Bogen bis zur glücklichen Heimat Schweden

Irene Weiss-Eklund war die Schwester von Peter Weiss. Kurz vor ihrem Tod im Mai dieses Jahres erschien ihre Autobiografie. Darin gibt sie eine der üblichen Familienaufstellungen: Die Mutter – ehedem Schauspielerin am Deutschen Theater in Berlin – hat die Erziehungsgewalt inne und unterwirft die Kinder ihren Launen. Eugen Weiss, der sich von seiner jüdischen Herkunft gelöst hat, ermöglicht der Familie als Direktor von Samtwebereien einen großbürgerlichen Lebensstandard. Wohin immer es die Familie verschlägt – ins Berliner Westend, nach England, Prag oder Schweden –, stets ist sie umgeben von Köchinnen und Kinderfrauen. Umgeben von Knoten im Nacken und hochgeschlossenen Blusen gleicht das elterliche Haus einer Erziehungsanstalt.

Erst durch die Gründung einer eigenen Familie entkommt Irene ihrem Zuhause. Die Einschnitte ihres Lebens bilden daher die Hochzeit mit Gunnar Eklund und die Geburten ihrer drei Kinder. Das ist der Schauplatz ihres Lebens, nicht das KZ, in dem ihre Verwandten umkamen, und auch nicht der Aufführungssaal des Auschwitz-Oratoriums „Die Ermittlung“ ihres Bruders Peter. Der Zivilisationsbruch von Auschwitz vollzieht sich im Hintergrund ihrer Privatangelegenheiten.

Der Verlag hat Irene Weiss-Eklund bereits in der Rolle der Schwester von Peter Weiss vorgestellt. Natürlich ist er der heimliche Protagonist, man erwartet sich Aufschluss über seine Person. Aber gerade in dieser Erwartung wird man enttäuscht. Pflichtschuldig erwähnt sie ihn in regelmäßigen Abständen: Peter, wie er sich in seinem Matrosenanzug in die Schandecke stellen muss; Peter, wie er sich als Halbwüchsiger gegen fünf Pfennig einen Blick auf ihr Geschlecht erkauft; Peter, wie er die Urne mit der Asche des Vaters in Händen hält. Aber gegenüber ihrem Leben im provinziellen Schweden zwischen den Kindern, dem Refugium des Kirchenchors und dem späteren Beruf als Tanztherapeutin bleiben diese Stillleben Randerscheinungen. Das Buch zeugt von der Fremdheit, die zwischen Menschen existieren kann, welche in derselben Umgebung aufwachsen und doch ihre Geschichte ganz anders zu erzählen haben.

Zumindest in dieser Hinsicht erweist sich das Buch aber doch als aufschlussreich: In seinen autobiografischen Erzählungen „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“ hat Peter Weiss seinen „Austritt“ aus der Familie deklariert. Alltägliche Familiensituationen potenziert er in ihrem Leidensdruck von innen her so stark, dass sie traumatisch wirken müssen. Dieses Albtraumhafte aber erscheint nun, da man die Aufzeichnungen der Schwester dagegenhält, keineswegs übertrieben, vielmehr als strikt realistisch.

Irene, die jene Situation gegenüber den Eltern als ähnlich pathogen empfindet wie ihr Bruder, findet aber keine Sprache dafür. Die Zeit, von der sie berichtet, ist entweder „schwer“ gewesen oder aber „die glücklichste im Leben“. Sie will nicht mehr, als die Umstände ihres Lebens getreu abzubilden. Auf Schritt und Tritt befindet sie sich auf der „Suche nach Heimat“, und wo immer sie einen neuen Raum betritt – sei es die Familie, die sie gründet, sei es das Land Schweden –, erklärt sie ihn zu ihrer Heimat: „Hier fühle ich mich wohl.“ Selbst ihre Abgründe, die sich in Kindertagen in hysterischen Lachanfällen, in späteren Jahren in veritablen Angstzuständen melden, finden einfach Erwähnung, ohne einen Zugang für den Leser zu gestatten.

Peter Weiss hat einmal gesagt, jede seiner Zeilen sei politisch. In noch eminenterem Sinne ist jede Zeile seiner Schwester privat.

MANUEL GOGOS

Irene Weiss-Eklund: „Auf der Suche nach einer Heimat. Das bewegte Leben der Schwester von Peter Weiss“. Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs. Scherz-Verlag, München 2001, 222 Seiten, 39,90 DM