Utopia hinter den sieben Bergen

Unser Land soll schöner werden: Die „IndustrieKultur Saar GmbH“ will stillgelegte Zechen in Zukunftsstandorte umwidmen. Nicht jede Halde muss Großraumskulpturen sockeln. Die Vulkankegel von „Hermann und Dorothea“ dürfen weiter rauchen

von IRA MAZZONI

Märchenhaft ist diese Reise ins unbekannte Land. Berg um Berg dichter Laubwald, sattgrün mit krausen Konturen. Bergwald, Kohlewald, Saarwald. Märchenhaft klingt auch, was Karl Kleineberg zu erzählen hat. Kleineberg ist seit wenigen Wochen Geschäftsführer der neu gegründeten „IndustrieKultur Saar GmbH“ (IKS) und soll Zukunft in den Wald bringen. Wir schauen vom höchsten Förderturm Europas in 90 Meter Tiefe auf die Schachtanlagen des Bergwerks Göttelborn, die Maschinenhäuser, die Kohlenwäsche und das Verwaltungsgebäude, den Materiallagerplatz, das schwarze Absetzbecken und die Halde. An der Hangkante tauchen die weißen Kühltürme und Schlote des Kraftwerks Weiher auf, dahinter wieder dunkelgrüne Höhen mit dörflichen Lichtungen.

Kleineberg deutet auf die stillgelegte Zeche und fabuliert von dem Möglichen: Eine Stadt soll hier entstehen. Eine Stadt für Querdenker, „Verrückte“, Utopisten. Der Stadtplan ist längst fertig, von Bergleuten nach Notwendigkeiten in hundert Jahren entwickelt: Es gibt Schienenwege, Straßen, Gassen, Plätze, Häuser und Baugrund. Abreißen muss man nichts, nur das Alte behutsam umnutzen. „Wir ersticken doch an umweltproblematischem Bauschutt.“ Umbruch statt Abbruch ist die Devise. Mit einem weiteren Gewerbegebiet wäre nichts gewonnen. Davon hat man im Saarland mehr als genug. Göttelborn soll aber ein Zukunftsstandort mit urbanem Flair werden. Um das Potenzial zu entwickeln, braucht es eben Verrückte. Kleineberg macht den Anfang. „Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen . . .“ Seit Anfang Juni residiert er in den dicken roten Sandsteingemäuern des ehemaligen Verwaltungsgebäudes auf Göttelborn.

Kleinebergs Biografie ist gelebter Strukturwandel. Er hat Bergbau studiert, war Werksmarkscheider im Bergwerk Hugo in Gelsenkirchen, war zuständig für Raumordnung und Landesplanung bei der Deutschen Steinkohle, hat Erfahrungen mit der IBA Emscherpark, gehört zum Vorstand der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur des Landes NRW, deren Aufgabe es ist, mit Hilfe eingesparter Abrisskosten und Landesmitteln die ihr von der Industrie überlassenen Baudenkmale zu erhalten, sinnvoll zu nutzen, wissenschaftlich zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Doch ohne seinen Ideenreichtum wäre Kleineberg an diesem verlassenen Ort aufgeschmissen. Aus der Zeche soll ein Campus werden: 500 bis 700 Leute sollen hier einmal leben, wohnen und arbeiten. Ein „Institut für periphere Forschung“ etwa könnte zu Füßen des Förderturms angesiedelt werden. Denn Lösungen der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Probleme ließen sich nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit an den Rändern der Fachgebiete lösen. In dem kreativen Reizklima des Bergwerks könnten die Ressourcen des 21. Jahrhunderts entdeckt und entwickelt werden. Aus der Forschungsarbeit könnten neue Produkte und neue Dienstleistungen für komplexe Lösungen erwachsen.

Kleinebergs Grundproblem: Wie plant man Zukunft und wie findet man die Verrückten der Welt, die das Potenzial haben, Zukunft zu denken? Und das auf Göttelborn, der größten Investitionsruine Europas. Der weiße Förderturm über Schacht IV ist zwar ein Wunderwerk der Ingenieurbaukunst, aber ein kolossales Mahnmahl für falsche Zukunftsprognosen und verlogene Politik. Entworfen 1990 von Bernd Sarner, um aus einer Tiefe von 1.000 Metern 12.000 Tonnen Kohle pro Tag zu fördern, 1995 fertig gestellt und nach Probebetrieb sofort stillgelegt. Nach drei Kohlerunden wurde nur noch eine Fördermenge von 8.000 Tonnen subventioniert. Aber die Politik erklärte weiter, das Saarland ohne Kohle sei undenkbar. Die heimische Kohle habe Zukunft. Nun soll also der steile Riese von Göttelborn Stadttor eines Zukunftsstandortes werden: ein Märchen, das wahr wird?

„Industriekultur“, „Zukunftsstandorte“, „Ankerpunkte“, „Landmarken“, das Vokabular des Strukturwandels klingt vertraut, klingt nach IBA-Emscherpark und Karl Ganser. Ganser berät auch die Regierung im Saarland. Unter seiner Leitung beriet eine 10-köpfige Kommission über das Potenzial der Industrieregion Saar, entdeckte „Bühnenlandschaften“ und entwarf vage Standortprofile. Im September letzten Jahres lag der Bericht der Kommission vor, das Profil für Göttelborn glich dem Konzept, das Ganser für Zeche und Kokerei Zollverein in Essen entwickelt hat: Kunst und Design als Motoren des Fortschritts passend zu den weißen Kuben des Bergwerks, ein Bauhaus des 21. Jahrhunderts.

Wer das las, mochte an Zukunft kaum glauben. Kleineberg vermeidet heute schon die verbrauchten Worthülsen. Für den Umbau wird er weder Norman Foster noch Rem Koolhaas verpflichten. Kleineberg setzt nicht auf die Magie der großen Namen, seine Vision ist, dass junge Architekten, Ingenieure und Künstler sich mit intelligenten Projekten im Saarland einen Namen machen. Dabei gehört ein vorbildlicher und wegweisender Umgang mit der Ressource Altbau zu den Grundaufgaben. Vielleicht entsteht auf diesem Sektor auch ein neuer Markt. Wer weiß?

Gelingt es der IndustrieKultur Saar, aus den Fehlern der IBA zu lernen, Eigenständigkeit zu beweisen und vorausschauend langfristig zu planen, am Anfang schon das Ende zu denken, dann gibt es eine Chance auf Erfolg. Der eigenartige, herbe Landschaftsraum darf nicht verhübscht und verkunstet werden. Nicht jede Halde muss Großraumskulpturen sockeln. Und doch wird die IKS die schroffen Kegel als Menschen- und Maschinenwerk in Szene setzen. Ein wenig Verklärung ist immer dabei: Die massige Form der Halde Ensdorf im Saartal ist als Landmarke weithin sichtbar: „Ayers Rock“! – nur schwarz. Und die Spitzkegel von „Hermann und Dorothea“ bei Völklingen rauchen wie Vulkane.

Kleineberg hat sein halbes Leben nichts anderes gemacht als Halden gebaut. Jetzt will er diese merkwürdige Welt fremdartiger Natur und pfeifender Winde so weit wie möglich einem größeren Publikum erschließen. Vielleicht sogar den Abraumbergen einen spezifischen Ton geben. Noch gibt es Raum genug für Fiktionen. Und während wir an der langen Saarfront des Stahlwalzwerks vorbei auf Völklingen zusteuern, nimmt die Vision eines Lichtbandes Gestalt an: von Sarreguemines bis Mettlach auf 90 Kilometern 10 ausgewählte Lichtkunstwerke, die den Lebensfluss der Industrien neu beleuchten. Jedes Jahr neu. Märchenhaft und werbewirksam.

Der Projektrahmen ist überschaubar. Nicht 110 IBA-Projekte, sondern 3 Zukunftsstandorte sollen in den nächsten zehn Jahren entwickelt werden: Göttelborn, Welterbe Völklinger Hütte und Grube Reden. Die Märchenfee gibt auch immer nur drei Wünsche frei. Die Völklinger Hütte ist das touristische Herzstück des Entwicklungsplans: 52.000 Tonnen rostendes Eisen auf 600.000 Quadratmetern. 6 Hochöfen begleitet von 18 Cowpern, überragt von Gichtgasrohren, eingesponnen in ein Aderwerk aus Kabeln; dazu Erzbunker, Hängebahnsystem, Gebläsehalle, Wasserturm, Gasometer, Kokerei und Trockengasreinigung. Das komplette Stahlwerk gehört seit 1994 zum Welterbe. Noch ist das Areal weitgehend verbotenes Terrain. Die Erschließung muss noch vom Bahnhof bis zur Saar vorangetrieben werden. In diesem Jahr können die Besucher erstmals wieder auf die Gichtbühne bei Hochofen 6. In vier Jahren soll jedes Loch in der Plattform geflickt sein, sodass ein Rundgang um die Hochöfen auf 30 Meter Höhe möglich wird.

Seit 1999 nennt sich die Völklinger Hütte „Europäisches Zentrum für Kunst und Kultur“. Generaldirektor Meinrad Maria Grewenig hat bereits etliche Mittel eingesetzt, um das eiserne Erbe multimedial zu inszenieren: Nachts erstrahlt die Kulisse in Regenbogenfarben. Ein Klangteppich legt sich über das Areal und erinnert an das Kreischen der Umlaufwägen, das Zischen der Ventile und das Dröhnen der Maschinen. In der Gebläsehalle hat Stefan Mathieu den verstummten Winderzeugern eine digital rekonstruierte Stimme gegeben, die sogar den Boden wieder vibrieren lässt. Darüber hinaus aber lässt Gewenig von Künstlern die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde beschwören, ohne die die Hütte nicht hätte arbeiten können. Wenn es nach ihm ginge, dann würde bald am Rande des Areals unterhalb des Wasserturms ein skulpturales Thermalbad von Tobias Rehberger entstehen. Surrealer Gag oder zukunftsversprechende Entwicklungsmaßnahme? Darüber wird noch gestritten. Genauso wie über den städtebaulichen Entwicklungsplan für das Gesamtareal. Auch das Event-Programm steht auf dem Prüfstand: Konzerte gibt es in vielen Hütten – in der Gebläsehalle muss sich substanziell anderes ereignen.

In Reden – dem dritten Zukunftsstandort – wird die Natur blühen. Auf der mächtigen, 400 Meter hohen Halde wuchern schon jetzt Kamille und Kanadischer Goldregen, steht Schilf an den Wassermulden, strecken sich Flechten über das schwarze Geröll. Zu Füßen der Halde könnte ein botanischer Garten des Karbon-Zeitalters angelegt werden, in den alten Zechengebäuden ein Bionikzentrum entstehen. Selbst die Räume unter Tage könnten genutzt werden: Nicht museal – als Bergwerksmuseum eignet sich Careau Wendel im benachbarten Frankreich besser – sondern emotional. Totale Dunkelheit – wo gibt es das sonst in unserer Medienwelt? Die Ideen treiben Blüten, aber die zarte Pflanze Zukunft hat auf Reden schon pragmatische Wurzeln geschlagen. Es wird nicht alles Märchen bleiben, was nach Dornröschen aussieht. Kleineberg und die IndustrieKultur Saar brauchen gewiss noch Zeit, mehr Verrückte und Pragmatismus, um den Utopien Profil und wirtschaftliche Perspektiven zu geben.