Kein Big Sur im Süden

Integrationsfigur oder Einzelkämpfer? Die Ausstellung „Vincent van Gogh und die Maler des Petit Boulevard“ im Frankfurter Städel reflektiert van Goghs Verhältnis zu seinen Pariser Malerkollegen

Welche Ironie. Als sich Vincent van Gogh 1890 in Auvers erschoss, war er noch ein Nobody. Der 37-Jährige konnte zu seinen Lebzeiten kaum ein Bild loswerden. Auch sein Bruder Theo, der ihn finanziell über Wasser gehalten hatte, erlebte den postumen Ruhm nicht, er starb nur ein halbes Jahr später. Dass Vincents Werk erhalten blieb, verdanken wir seiner Schwägerin Johanna.

Ins kulturelle Gedächtnis ging der Künstler als einsames Genie ein, das sich zeitlebens vergeblich um Anerkennung und Zuwendung bemühte. Nun will die Ausstellung „Vincent van Gogh und die Maler des Petit Boulevard“ im Frankfurter Städel dieses Bild revidieren und den Maler ganz anders, nämlich als in die Pariser Künstleravantgarde integriert, präsentieren: „Die Ausstellung bietet einen neuen Blick auf van Gogh. Der faszinierende Künstler wird nicht als einsam schaffendes, verkanntes Genie präsentiert, sondern als Teilhaber einer lebendigen Künstlerszene, die er seinerseits maßgeblich geprägt hat“, so die erklärte Absicht der Kuratoren. Neben Werken van Goghs aus seinen letzten vier Lebensjahren hängen daher gleichberechtigt Bilder seiner Pariser Malerkollegen, unter ihnen Seurat, Signac, Vater und Sohn Pissarro, Gauguin und Toulouse-Lautrec.

Van Gogh bezeichnete sie als „Maler des Petit Boulevard“, wohl um sich einer festen Malergemeinschaft zugehörig zu fühlen. Doch der Katalog muss zugeben, dass dies ein Wunschdenken war. Denn bei allem Austausch gab es viel Konkurrenz unter den Künstlern, die für ihren individuellen Durchbruch auf dem Markt kämpften. Gemeinsam war ihnen allenfalls, dass sie sich als Avantgarde verstanden und über den schon etablierten Impressionismus des „Grand Boulevard“ hinausgehen wollten.

Schon weil die Beziehungen so locker waren, erscheint die neue These gewagt. Nach überzeugenden Belegen sucht man vergebens. Zweifellos profitierte der Autodidakt van Gogh künstlerisch enorm von der Bekanntschaft mit den überwiegend jüngeren Malerkollegen, die er in einem Zeichenkurs und dem Laden für Künstlerbedarf des Père Tanguy kennen gelernt hatte. Mit einigen ging er zum Malen in die Pariser Vorstädte oder suchte nach Ausstellungsmöglichkeiten. Ihre Treffen im Atelier von Toulouse-Lautrec besuchte er regelmäßig.

Dort scheint er eine Randfigur geblieben zu sein, die eher unbeholfen auftrat. Der Katalog zitiert eine Teilnehmerin dieser Treffen: „Er trat mit einem schweren Bild unter dem Arm ein, stellte es in eine Ecke, aber so, dass es gut beleuchtet war, und wartete darauf, dass es uns auffiel. Aber niemand achtete darauf. Er selbst saß dem Bild gegenüber, studierte die Blicke der anderen und beteiligte sich selten am Gespräch. Schließlich ging er müde nach Hause und nahm sein neuestes Werk wieder mit. Aber in der nächsten Woche kam er wieder, und jedes Mal versuchte er es mit derselben Strategie.“

Sein mutmaßliches Gefühl, auch in Paris Außenseiter zu sein, könnte erklären, warum van Gogh im Februar 1888 nach nicht einmal zwei Jahren sein Zimmer bei Bruder Theo in Montmartre aufgab und nach Arles zog. Durch die Motive des Midi, die alten Olivenbäume und Zypressen, unter dem gleißenden Licht, wollte er ein unverwechselbares Image gewinnen. Vor allem träumte Vincent aber von seinem Gelben Haus in Arles als einer Anlaufstelle, aus der eine wirkliche Künstlergemeinschaft, das Atelier des Südens, hervorgehen sollte. Doch nur Gauguin gab seinem Drängen nach, weil Theo die Reise finanzierte. Der Zwist zwischen den so unterschiedlichen Charakteren stellte sich prompt ein, Gauguin reiste nach zwei Monaten wieder ab. Das Ende seines Traums war niederschmetternd, die Einsamkeit überwältigte den Künstler nun immer häufiger.

Getreu der Tendenz des Ausstellungskataloges, das Bild des Künstlers aufzuhellen und von seinen Schwierigkeiten abzusehen, wird die „Krankheit“ van Goghs nur ganz nebenbei erwähnt. Das erstaunt, weil sie einerseits die Intensität und Heftigkeit seiner Bilder steigerte und ihn andererseits als Person in einem Teufelskreis endgültig isolierte.

Spätestens jetzt vermutet man, dass die amerikanische Herkunft der Ausstellung die Sichtweise auf den Künstler beeinflusst haben könnte. Wo große Leistungen mit Gesundheit und Fitness assoziiert werden, wird der „bekannteste Künstler der Welt“ leichter zu einem „Entwickler strategischer und theoretischer Konzeptionen, dessen bedeutende Rolle bei der Herausbildung einer neuen Avantgarde bisher nicht genügend Anerkennung gefunden hat“, so der Direktor des für das Konzept verantwortlichen Saint Louis Art Museum im Vorwort.

Zwar hat Vincent immer wieder, vor allem in seinen vielen Briefen an Theo, seine Arbeit theoretisch reflektiert. Dass er die Avantgarde in seiner kurzen Pariser Zeit jedoch entscheidend beeinflusst hat, kann die Ausstellung nicht schlüssig belegen. Das macht nichts. Auch ohne die kühne These wäre die aus aller Welt zusammengeborgte, hochkarätige Gemäldeschau ein Renner geworden, zu Recht.

URSULA WÖLL

Bis 2. 9., Städel, Frankfurt. Der Katalog (Hatje Cantz Verlag) kostet 49,90 DM.