Coming-out auf dem Klo

Drogen, Dauerparty und der Drang zur Selbstdarstellung: Mit „Closer to Heaven“ haben die Pet Shop Boys in London ein schwules Disco-Musical inszeniert – ihr Kommentar zur Clubkultur der Neunziger

Sexuelle Identitätist einenarzisstische Spielartunter vielen

von CORINNA WEIDNER

Lästern gehört zu seinem Handwerk. „Andrew Lloyd Webber hat musikalisch nichts zu unserer Kultur beigetragen“, pulverte Neil Tennant noch vor einiger Zeit gegen den Paten des britischen Musicals. Doch spätestens seit bekannt wurde, dass Webbers Produktionsfirma „Really Useful Group“ das erste Musical der Pet Shop Boys produziert, hat Tennant eine andere Tonart eingeschlagen. „Es ist zwar nicht die Art von Musik, die wir zu Hause hören. Aber man kann sich nicht dagegen wehren, beeindruckt zu sein, wie die Songs im richtigen Moment auftauchen, die Handlung weiterbringen, wie das Publikum darauf reagiert.“

Auf „Closer to Heaven“, das Musical der Pet Shop Boys, hat im Vorfeld vor allem die Presse reagiert und mit Vergleichen zu „Hair“, „Jesus Christ Superstar“ oder der Rockoper „Thommy“ von The Who die Zeiten heraufbeschworen, in denen Musicals noch Popgeschichte schrieben und das Lebensgefühl einer ganzen Generation auf die Bühne brachten. Die Branche steckt zwar nicht gerade in einer ökonomischen Krise, aber ein Blick auf den Spielplan des Londoner West Ends zeigt, dass die meisten Produktionen nur dann massentauglich sind, wenn sie familiengerecht daherkommen. Und das tun derzeit vor allem Musicals wie „König der Löwen“ oder jene Webber-Gassenhauer wie „Cats“ und „Phantom der Oper“, die seit Dekaden laufen.

Mit der Ankündigung, etwas „völlig anderes zu tun und musikalisch keine Kompromisse einzugehen“, gab das höchst erfolgreiche Elektronik-Popduo all jenen Futter, die auf eine längst fällige Verjüngung des Genres warten. Zudem lieferte das Buch von Jonathan Harvey vorab einen schönen Aufreger: ein schwules Disco-Musical, was für eine Herausforderung!

Die Geschichte um einen ambitionierten Provinzjungen auf der Suche nach Ruhm und dem Weg zur Selbstfindung ist als klassisches Liebesdreieck angelegt, das im hedonistischen Club-Setting in die Sinnkrise schlittert. Drogen, Dauerparty und der gnadenlose Drang zur Selbstdarstellung – obwohl vieles an den Glamour der Disco-Ära erinnert, hebt das Stück auf die Clubkultur und das Popbusiness der 90er ab. So darf der smarte Paul Keating in der Rolle des Straight Dave von der Karriere in einer Boyband träumen, während er sich noch als Gogotänzer verdingt. Da trifft es sich gut, dass Shell, die Tochter des Clubbesitzers, in die er sich verknallt, für einen Musikmanager arbeitet. Geradezu genüsslich spielt der Plot immer wieder Emotion gegen Ambition aus. Die Figuren können allesamt vortrefflich posen, gehen aber sukzessive an ihrer Einsamkeit zu Grunde. Das Spiel mit Ambivalenzen, generell ein Charakteristikum der Pet Shop Boys, findet hier eine stimmige Umsetzung, und die Verknüpfung von Musik und Handlung zeigt, wie genau man bei Andrew Lloyd Webber hingeguckt hat. Der Titelsong „Closer to Heaven“ schlingt sich wie ein Faden um die Figuren, sobald die Liebe ins Spiel kommt. Das entspricht einer Besonderheit des britischen Musicals, nämlich das Stück um ein bis zwei musikalische Themen herum aufzubauen und sie zu variieren – niemand hat das so perfektioniert wie Webber.

„In Denial“ ist das zweite Thema und es dient dazu, die Sinnkrisen der schwulen Protagonisten zu verhandeln, mit denen das Stück gepflastert ist. Der alkoholsüchtige Clubbesitzer, der genial ekelerregende, fettleibige Musikproduzent und sein Assistent erzählen mal schmerzhaft, mal grotesk vom falschen Leben im richtigen, wobei die Zuschreibungen von falsch und richtig durchaus fließend ausfallen.

Und dann ist da noch das videoüberwachte Klo, auf dem Straight Dave sein Coming-out erlebt. Die Szene wird für die Zuschauer auf einer großen Leinwand eingespielt, gleichzeitig flimmert sie auch im Büro des Clubbesitzers über den Bildschirm und damit vor die Augen seiner Tochter. Dieses voyeuristische Moment ist ein direktes Zitat aus dem Londoner Nachtclub „Heaven“ – obwohl sich das Stück laut Tennant sonst nicht auf den Club bezieht, sind sich einige Zuschauer sicher, viel von dem wieder erkannt zu haben, was Gay Nights im „Heaven“ ausmachen. Trotzdem ist „Clother to Heaven“ viel zu mainstreamkompatibel aufbereitet, um ein genuin schwules Musical zu sein; die sexuelle Identität wird so verhandelt, als sei sie eine narzistische Spielart unter vielen. Das geht kaum über die bisherige Praxis der Pet Shop Boys hinaus, die kulturelle Verwobenheit von schwuler Ästhetik und Discotradition in der Allgemeinheit des Pop fortzuschreiben. Vielmehr rekurriert es auf den Clubkontext der 90er-Jahre, in dem die Inszenierung von Geschlechterrollen eine scheinbare Durchlässigkeit erreichte.

Und so ist der Name „Straight Dave“ natürlich ein prima Runninggag, markiert aber auch eine grundsätzliche Haltung. Als der Tod des Drogendealers durch eine Überdosis der jungen Liebe ein jähes Ende setzt, erkennt Dave, dass sein Weg weder über die kaputte Szenerie des Clubs noch über den aufdringlichen Manager führen kann. Frei nach dem Credo „I do it my way“ meint „straight“ hier weit mehr als eine sexuelle Identität. Eine Parteinahme des Musicals mag man nur darin erkennen, dass die Bettszene zwischen Dave und Lee viel sensibler inszeniert ist als ihr heterosexuelles Pendant.

Im Ganzen zeigt sich „Closer to Heaven“ als wohl durchdachte und gut kalkulierte Angelegenheit. Für die Rolle der abgewrackten Discodiva Billy Tricks wurde mit Frances Barber (bekannt aus „Sammy und Rosie tun’s“) zumindest ein lokaler Star eingekauft, deren Performance als dauerbekokste Camp-Ikone irgendwo zwischen Janis Joplin und der späten Dietrich einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Das Styling ist trendy, das Bühnenbild zitiert Derek Jarman und Studio 54, und die Choreografie kann es mit jedem Musikvideo aufnehmen.

Mit dem Arts Theater wurde zudem eine kleine Experimentierbühne gewählt, und drei der Songs haben bereits auf dem letzten Pet-Shop-Boys-Album „Nightlife“ ihre Poptauglichkeit unter Beweis gestellt. „Clother to Heaven“ hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: So mitreißend es auch ist, wenn die Musik der Brit-Popper ihre theatralische Größe nun im Theater entfaltet – der Gesang der Darsteller kann nicht mit der Perfektion der Studioaufnahmen mithalten. Trotz solcher Transferprobleme aber scheint „Closer to Heaven“ sein Publikum zu finden: Die Spielzeit wurde bereits bis Anfang 2002 verlängert.

Infos: „Clother to Heaven“ läuft im „Arts Theater“, 6–7 Great Newport Street, Londonwww.closertoheaven.co.uk