„Ich sehe mich noch als Lehrling“

Der Verleger Carlo Feltrinelli über die Biografie, die er über seinen Vater, die italienische Polit-Ikone Giangiacomo Feltrinelli, geschrieben hat, die Gefahr des Pathos, positive Reaktionen und die nach wie vor ideologisierte öffentliche Meinung in Italien

von THOMAS FITZEL

taz: Carlo Feltrinelli, Sie waren acht Jahre alt, als Ihr Vater in den Untergrund ging. Bis zu seinem Tod hielt er aber den Kontakt aufrecht, schrieb Ihnen Briefe und Sie verbrachten gemeinsame Urlaube. Begriffen Sie überhaupt die Situation?

Carlo Feltrinelli: Mir war schon klar, dass die Treffen mit meinem Vater in Österreich oder Südfrankreich keine Ferienausflüge waren. Meine Eltern versuchten, mir die Situation zu erklären, dass es einen politischen Kampf gäbe und sich mein Vater in Italien bedroht fühlte.

Wurde denn der Familienlandsitz Oberhof in Österreich nie überwacht?

Mein Vater wurde in Italien gesucht, aber dies auch nur in Anführungsstrichen. Im restlichen Europa hatte man zwar ein Auge auf ihn, aber es gab keinen eigentlichen Haftbefehl. So war er des Öfteren für längere Zeit in Oberhof und wahrscheinlich wussten die österreichischen Behörden davon. Vieles war keineswegs wie in einem Agentenfilm, auf der anderen Seite dann aber auch wieder sehr viel verrückter, mit all den unzähligen Geheimdiensten, die ihn observierten.

In der Biografie schreiben Sie wenig über Ihre eigenen Gefühle. An einigen Stellen kann man diese als Leser erahnen, so berichten Sie, wie Sie bei einem Besuch in Oberhof ein Selbstverteidigungsspray gegen sich selbst richteten und dass dies „wehtat“. War diese Zeit nicht ein Albtraum für Sie?

Nein, es hatte eigentlich nichts Albtraumhaftes für mich. Die Sache mit dem Verteidigungsspray war ganz banal. Ich fand es in einem Nachttischchen und probierte es aus. Es wühlte mich nicht furchtbar auf oder traumatisierte mich gar, denn damals war das gesamte gesellschaftliche Klima sehr gewalttätig mit den vielen Demonstrationen, und daher schien es mir nicht ungewöhnlich.

Warfen Sie Ihrem Vater jemals vor, dass er Sie verließ?

Das werde ich oft gefragt. Ich hatte ein enges Verhältnis zu ihm. Ohne diesen Erfahrungsschatz, den mir mein Vater weitergab, hätte ich das Buch nie schreiben können. Er zeigte mir, dass man mehr als nur ein Leben zu leben vermag und manchmal sehr viel Mut braucht. Daher hatte ich nie das Gefühl, von ihm verlassen worden zu sein.

„Ich mache dies alles für meinen Sohn“, sagte ihr Vater einmal. Ist das ein bedrückendes Erbe, dem man nicht gerecht werden kann?

Das ist ein ziemlich starker Satz, den man auch ein wenig pathetisch nennen könnte. Ich mag ihn dennoch, weil er im Kern seine Idee vom Kommunismus trifft, auch seine Naivität und Genialität. Er vermittelt einem eine Vorstellung davon, wer er war: ein Mensch, der außerordentlich überzeugt war von seinen Ideen und seinen Entscheidungen, selbst wenn damit ein hoher Preis verbunden war.

Ist die Biografie eine Liebeserklärung? Der Titel „Senior Service“ ließe sich auch wörtlich lesen als Dienst am Älteren, d. h. dem Vater.

Den Titel wählte ich, weil er von allem etwas enthält: Secret Service, und dies zugleich ironisiert. Bei einem Buch über den eigenen Vater besteht immer die Gefahr des Pathos. Dann wegen der Zigarettenmarke, an deren Duft ich mich erinnerte, und eben auch wegen dieser wörtlichen Bedeutung als Dienst des Seniors gegenüber dem Junior.

Was gab den Auslöser, die Anregung, dieses Buch zu schreiben? Die Frage nach der eigenen Herkunft oder das ungelöste Rätsel des Todes Ihres Vaters?

Ich begann damit, als ich 32 Jahre alt war. Ich schrieb am Abend, am Wochenende oder in den Ferien. Ich überarbeitete es mindestens 200 Mal. Im November 1999 nahm man es mir schließlich aus der Hand und wir entschieden, es zu veröffentlichen. Ich schrieb es eigentlich nur für mich, nicht um zu erfahren, wer mein Vater gewesen sei, gewissermaßen als sentimentale Recherche, das brauchte ich nicht, ich wusste, wer er war, aber ich wollte Klarheit schaffen in einer für die italienische Kultur und Politik großen Geschichte, die zum Teil vergessen und zum Teil entstellt worden war.

Welche Archive konnten Sie nutzen und welche hätten Sie gern noch eingesehen?

Außer den Archiven des Innenministeriums konsultierte ich diverse zeitgeschichtliche Archive. Mich interessierte weniger, eventuell noch unbekannte Fakten aufzustöbern, als zu verstehen, welches teilweise fast surrealistische Bild von Giangiacomo Feltrinelli damals kreiert wurde. Wollte man aber sämtliche Spuren verfolgen, verlöre man sich hoffnungslos in dieser Masse von Vermutungen und auch gefälschten Informationen. So heißt es einmal z. B. in einem Archiv: Feltrinelli war am 1. Mai 1971 in Korea. Es gibt keinen einzigen Beweis dafür, dennoch wird es darin ohne jeden Zweifel behauptet. Passierte irgendetwas z. B. in Palermo, dann hieß es sofort: Dahinter steckt Feltrinelli. Drei Jahre soll er sogar in der Tschechoslowakei verbracht haben. Vielleicht flog er ja nur dreimal von dort aus nach Kuba. Die Wahrheit ist oft sehr viel banaler. Und sehr vieles ist einfach von den Agenten erfundenes und oft ziemlich groteskes Zeugs.

Wie gelang es Ihnen, einige Mitglieder aus der Gruppe Ihres Vaters, der GAP [Gruppi di azioni partigiana = Partisanenaktionsgruppe, Anmerkung d. Red.], ausfindig zu machen und mit „Gallo“, der an dem versuchten Anschlag auf den Hochspannungsmast beteiligt war, zu reden?

Auch hier war es wieder letztlich sehr banal: Man spricht mit Leuten, die wieder Leute kennen, usw. Was ich dadurch von den direkten Zeugen des Todes meines Vaters erfuhr, war nicht so sehr neu und wichtig, eher sind es die Umstände und die kleinen Details, die zählen.

Gewannen Sie eine neue Sicht auf Ihren Vater?

Das würde ich nicht sagen. Aufregend dagegen waren die Entdeckung der Briefe zwischen ihm und Boris Pasternak. Sie mussten zuerst transkribiert und datiert werden. Schwierig war es, zu unterscheiden, welche nur fingiert waren, um von den entsprechenden sowjetischen Behörden gelesen zu werden, und welche tatsächlich eine Mitteilung enthielten.

Es überrascht, welch großen Raum Pasternak in Ihrer Biografie einnimmt.

Diese Geschichte gibt den Schlüssel für das Verständnis von Giangiacomo Feltrinellis späterer Entwicklung ab. Den Verlag gründete er 1955. Ein Jahr später bekommt er in Berlin von Boris Pasternak das handgeschriebene Manuskript von „Doktor Schiwago“ in die Hände. Er verlegte den Roman auf der ganzen Welt gegen den Willen der Sowjetunion sowie der KPI, der er noch angehörte. Gleichzeitig verteidigte er das Buch gegen eine Instrumentalisierung im Kalten Krieg. Es war der erste Weltbestseller überhaupt. In ihm ist alles enthalten: Literatur, Unterdrückung, Freiheit, Wagnis, Abenteuer, Verschwörung, einfach alles. Hätte die Sowjetunion den Roman wie geplant publiziert, alles wäre sehr viel weniger aufgeregt verlaufen und Feltrinelli vielleicht nicht Feltrinelli geworden. Der Fall Pasternak stellte die Macht der Sowjetunion in Frage und bewegte Politiker in West wie Ost. Und dies alles nur mittels eines einzigen Buches. Das bedeutete: Alles ist noch möglich – und zwar sofort und auf der ganzen Welt. Man konnte noch etwas bewegen, die Welt stand noch offen, das Spiel war noch nicht entschieden.

Nach „Doktor Schiwago“ gelang ihm ein zweiter Bestseller mit dem „Leoparden“. Alberto Arbasino schrieb 1963, dass ein „kleiner neuer Orson Welles einen kleinen neuen Citizen Kane“ aus dem Leben Ihres Vaters machen könnte. Wie war er als Verleger? Wie traf er seine Entscheidungen?

Eher instinktiv. Aber genauso vertraute er auf das Urteil seiner Mitarbeiter. Er war kein klassischer Intellektueller oder Bücherwurm, eher ein Kulturunternehmer. In den Sechzigern herrschte im Verlag ein ständiger Fluss und Austausch von Menschen und Ideen. Aber er war kein Tycoon amerikanischen Typs, kein Citizen Kane. Er war neugierig auf neue Tendenzen, darin auch beeinflussbar. Er war großzügig, höflich, aber manchmal von einer barschen Entschiedenheit. Aber was zählt: Er war immer kameradschaftlich.

Wie sehen Sie sich als Verleger im Unterschied zu Ihrem Vater?

Ich sehe mich noch immer als Lehrling. Wahrscheinlich bin ich eher vorsichtiger, aber wer weiß, vielleicht werde ich noch sehr viel entscheidungsfreudiger.

Wie waren die Reaktionen in Italien auf das Buch?

Die positiven Reaktionen auf das Buch waren überraschend. Ich hatte vorher niemandem davon erzählt, es gab auch zuvor keine Anzeigen, nichts. Andererseits ist in Italien die öffentliche Meinung noch immer sehr viel ideologischer geprägt, gerade auch jetzt mit Berlusconi. Feltrinelli war von der Rechten, aber auch der Linken zu einer fast lächerlichen Karikatur gemacht worden. Mich persönlich verletzt dies nicht, aber wenn man mich fragt, ob Italien heute reif genug ist, um über diese Epoche vernünftig, vorurteilslos und nicht ideologisch zu debattieren, dann muss ich dies verneinen.

„Senior Service“ von Carlo Feltrinelli erscheint demnächst bei Hanser, aus dem Ital. von Friederike Hausmann.