Pralle Baustaubträume

Viele Vorhänge fielen diesen Sommer in München endgültig – an drei Bühnen wurden prägende Intendanzen beendet. Schöne Bildbände blicken zurück auf die Arbeit von Dieter Dorn, Eberhard Witt und Elisabeth Schweeger. Das Publikum schaut indes voraus auf einen aufregenden Theaterherbst

von SABINE LEUCHT

Im Theater wird seit jeher viel gestorben. Allabendlich rollen auf der Bühne Köpfe, doch wenn der Vorhang fällt, treten ihre Inhaber zur Verbeugung an, als wäre nichts gewesen. Wenn eine ganze Ära stirbt oder wie in München gleich drei zurzeit, dann nehmen die Verbeugungen überhand und mit ihnen die Abgänge ins Nimmerwiedersehen. Adieu „Wallenstein“! Die letzte Produktion im Bayerischen Staatstheater vor der Flucht von Intendant Eberhard Witt in die selbst verordnete Bühnenabstinenz, von Regisseur Anselm Weber erst Ende April aus der Fantasie gestemmt – schon ist sie eingegangen ins allgemeine Nie-Wieder dieser Tage. Bloß zwei Dauerbrenner aus der Witt-Epoche („Der Brandner Kasper und das ewig’ Leben“, 1994, und „Indien“, 1997) hat, wie es heißt, die Fürsprache von Kunstminister Zehetmair in die neue Zeit hinübergerettet.

Witt-Nachfolger Dieter Dorn bringt, wenn er nach sieben Jahren Oberspielleitung und 18 Jahren Intendanz der Münchner Kammerspiele im Oktober endgültig auf die andere Seite der Maximilianstraße wechselt, immerhin sieben „Alt“-Produktionen mit – „Kontinuität“ ist schließlich sein Lieblingswort. Dafür wird der ebenfalls zum Staatsschauspiel gehörende Marstall, wo Elisabeth Schweeger die Künste wild sich kreuzen ließ, unter Dorn in eine Zukunft hinein renoviert, die das womöglich nicht zu schätzen weiß.

Die Dauerbaustelle, das ist die satte, die Münchner Variante des Theatertods. So haben die Kammerspiele in ihrer schon eineinhalb Jahre dauernden Renovierungszeit fast nur mehr Schlagzeilen mit Baufirmenpleiten, Mehrkosten und verschobenen Premieren gemacht. Doch das ist jetzt vergessen. Wenn zum Epochenwechsel der letzte Vorhang fällt, schlägt die Stunde der freundlichen Nachrufschreiber, Fotografen wühlen in ihren Kisten. Herausgekommen sind zwei schöne Bildbände – einer für das Bayerische Staatsschauspiel (Residenztheater, Cuvelliéstheater, Marstall) und einer für die Kammerspiele, das Theater der Stadt.

Während man sich die acht Jahre Witt/Schweeger eben noch unter die Arme klemmen kann, wiegt das Viertel-Dorn-Jahrhundert schwer: Über 600 Seiten Gedenken an ein Theater des Wortes, das bald im größeren Haus gegenüber weiter klingen wird – es wäre fast ungehörig viel, würde in diesem Band nicht buchstäblich jedes Exmitarbeiters gedacht. Porträts von Schauspielern, Regisseuren und Bühnenbildnern machen „Die Münchner Kammerspiele 1976–2001“ zu einem Who’s who der Bühnengrößen, und Blicke hinter die Bühne skizzieren Genrebilder des Theaterhandwerks.

Menschenlieb ist die Ära Dorn immer gewesen. Und menschenlieb endet sie, vom Hanser-Verlag unterstützt. Herausgeberin Sabine Dultz hat als Kritikerin des Münchner Merkur auch dann zu Dorn gestanden, als dieser sich, vom Altkulturreferenten Nida-Rümelin seiner Altintendanz enthoben, wie ein trotziges Kind gerierte. Mittlerweile wird der Mittsechziger auch von der Restpresse wieder lieb gehabt, so jugendfrisch-entschlossen blickt er im neuen Spielplanheft.

Eberhard Witts divenhaftem, leicht verletztem Schmunzeln begegnet man in der Abschiedsdokumentation des Bayerischen Staatsschauspiels vorläufig zum letzten Mal. Die Verbeugung des Intendanten vor seinem Haus ist eine Eigenproduktion, denn allzu viele einflussreiche Fans hat die laue Ära nicht gehabt. Auch der Theaterkritiker C. Bernd Sucher gehörte nicht unbedingt dazu, schrieb aber ein nettes Vorwort. Auf den Seiten dahinter nehmen die Akteure auf eigenwillig geschnittenen Bildern Abschied von München. Nur wenige bleiben unter Dorn, unter ihnen die wunderbare Tanja Schleiff, die Sucher „verführerisch knusprig“ findet. Der junge Paul Herwig, der poppigste Clavigo, den es je gab, wechselt als Einziger an die Kammerspiele.

Allein die Schweeger-Ära klingt wegen der Anhängigkeit des Marstall zum Staatstheater ohne eigene Publikation aus. Doch gerade im direkten Vergleich mit Szenenfotos aus Residenz- und Cuvilliéstheater wird das Innere des schlichten Backsteinbaus als Raumkunst-Raum erkennbar, in dem die Menschen klein sind und die Möglichkeiten dafür umso größer.

Betrieb und Moral

Natürlich ist Theater zum Blättern um sein Erregungspotenzial gebracht. Den ärgsten Flop der Witt-Epoche – Jörg Michael Koerbls „Neues Deutschland“ unter der Regie von Cornelia Crombholz – erträgt das Papier ebenso geduldig wie Stéphane Braunschweigs hoch gelobten „Woyzeck“ oder Dorns „Amphytrion“, die letzte Regietat des Kammerspielprinzipals im Mai 1999. In seiner neuen Residenz startet Dorn mit gleich drei eigenen Arbeiten, inszeniert neben seinen Lieblingsautoren Shakespeare und Botho Strauss Don DeLillo. Eigentlich hätte er im alten Haus noch gerne „Jeff Koons“ von Rainald Goetz gemacht, verrät er im Kammerspielbuch. „Dann kamen aber die ganzen Bauschwierigkeiten und meine Einsicht in der Silvesternacht 2000, dass ich mich in den Katastrophenbau nicht noch einmal mit einer eigenen Inszenierung begebe. Und ich hatte Recht damit.“ Im Baustaub und auf ewig neuen Ausweichbühnen den Betrieb (und einen Rest Moral) aufrechterhalten, das durften dann andere, Jüngere, und mochte zuletzt keiner mehr so recht: Zum Sommer hin gab es viele Lesungen, Videos beschworen bessere Zeiten und der letzte Regieauftrag ging an Gerd Lohmeyer vom Theater am Sozialamt, von hiesigen Kritikern schon einige Male zum deutschsprachigen Theater des Jahres gekürt.

Während man seinen Nachfolger und Nochschauspielchef der Salzburger Festspiele, Frank Baumbauer, bis Spielzeitbeginn in München nicht zu fassen kriegt, ist Dorn schon lange wieder im Probenstress: Sein „Kaufmann von Venedig“ wird am 12. Oktober die Saison eröffnen – vor einem schon wieder beachtlichen Stamm von neuen alten Abonnenten. Dafür aber schüttelt Baumbauer zwölf Tage darauf einen Trumpf aus dem Ärmel: Herbert Achternbusch inszeniert zur Eröffnung der „neuen“ Kammer sein Stück „Daphne in Andechs“. Dabei kam von dem „Bierkämpfer“ und unbequemen Vielschreiber bisher fast jeder Text im Hause Dorn auf die Bühne. Aus diesem „fast“ aber sei zuletzt böses Blut geworden, sagen Dorn und sein künstlerischer Direktor Michael Wachsmann. Vielleicht aber mochte Achternbusch einfach niemanden mehr mögen, der den Marstall, seine rettende „Küste“, nicht mag: „Ich werde dann nicht mehr hingehen, / wenn Frau Dr. Schweeger ihren Zaubermantel abgezogen hat, / denn langweilen kann ich mich überall, / dazu brauche ich keine heavy Kulturkaufhäuser.“ Schreibt Achternbusch im Residenztheaterbuch.

Das mit dem Kaufhaus allerdings ist noch ein wenig in die alte Zeit hineingesprochen, wo man Witt wieder und wieder seinen „Gemischtwarenladen“ vorwarf. Unter Dorn wird derselbe Laden vermutlich zum Spezialitätengeschäft, wo es von dem zu viel gibt, was der Nichtregisseur Witt nie im Angebot hatte: eine Handschrift. Dorn, der frisch nach seiner Berufung die künstlerische Selbstständigkeit des Marstalls als „Witts größten Fehler“ brandmarkte, hat mit Internationalität, Medienkunst und Zeitgeist nichts am Hut. Er macht „Subjekttheater“ (FAZ) und schwört auf die Bühne als Dramenbewahranstalt. Dafür heißen ihn die einen einen „Helden“ (SZ) – und die anderen pastoral: „Fast alles, was ich vom Theater nicht will, weiß ich von Dieter Dorn“, schreibt der Spiegel-Redakteur Wolfgang Höbel im Kammerspielbuch, dem die Offenheit auch für solche Stimmen zur Ehre gereicht.

Elisabeth Schweeger wird fortan das Frankfurter Schauspiel leiten. Die Münchner Szene wird ohne den organisatorischen Draht zwischen dem „Innen“ der Institutionen und dem „Außen“ der unabhängigen Künstler ziemlich brachliegen, wie Alexeij Sagerer meint, seit mehr als zwanzig Jahren der größte unabhängige Theatermacher Münchens. Von Witt in einer mutigen Tat vom Bildungsauftrag freigestellt, wurde der Marstall rasch zum experimentellen Zentrum der Stadt: Hier wurden Pferdekadaver gehäutet und gewichtige Worte gewechselt. Und man lernte, dass auch Flops glücklich machen können.

Jene Stelle, die in Frankfurt der Mousonturm, Kampnagel in Hamburg und in Berlin die Sophiensaele besetzen, ist in München von nun an vakant. Wäre nicht alle zwei Jahre das Spielart-Festival, die Stadt von Weißwurst und Oktoberfest würde in die Provinzialität zurückfallen, die man ihr ohnehin gerne unterschiebt. Immerhin aber beherbergt sie ab September die wohl erfolgreichsten Theaterleiter, die in Deutschland derzeit zu finden sind. Und zumindest Frank Baumbauer, der am Hamburger Schauspielhaus bewiesen hat, dass der Mut zum Ungewöhnlichen mit Publikums- und Kritikergunst versöhnbar ist, bringt auch etwas Großstadt in die Bayernmetropole.

Um die verfügbaren vier Spielstätten der Kammerspiele – das Stammhaus wird für weitere drei Jahre renoviert – nicht von null auffüllen zu müssen, knüpft Baumbauer an Bewährtes an: Mit Jossi Wielers wunderbar rhythmisierter Inszenierung von Jelineks „Wolken.Heim“ von 1993 und mit Christoph Marthaler, dessen Züricher Schauspiel einmal pro Saison mit den Kammerspielen koproduziert. Thomas Ostermeier von der Berliner Schaubühne, Simon McBurney vom Londoner Theatre de Complicite werden Workshops leiten. Und auch Andreas Kriegenburg, dessen „Draußen vor der Tür“ die Ära Witt die einzige Einladung zum Theatertreffen verdankt. Zumindest für Vernetzung auf der Ebene der Institutionen ist also gesorgt. Und es ist nicht auszuschließen, dass München im Kampf der Intendantengiganten zur heimlichen Hauptstadt des Theaters mutiert. Nach dem Sommer der Bilder kommt vielleicht das pralle Leben.

Sabine Dultz (Hrsg.): „Die Münchner Kammerspiele 1976–2001“. Carl Hanser Verlag 2001, 608 Seiten, 68 DM; „Das Bayerische Staatsschauspiel 1993–2001: Residenztheater, Cuvilliéstheater, Marstall“, ohne Seitenangabe, 32 DM, nur über das Theater erhältlich.