Keine Insel in Sicht

Der in Mosambik lebende Schriftsteller Henning Mankell schildert in zwei Büchern den Irrsinn des „stundenweisen Überlebens“ afrikanischer Straßenkinder und die Folgen kolonialer Entwurzelung

Wie Nelio und seine Bande hat auch Molo Träume – aber es sind Albträume, von im Sand erstickenden Menschen, Ahnungen des Todes

von DOMINIC JOHNSON

Afrikanische Kinder sind Mode geworden, tote afrikanische Kinder ganz besonders. Kaum ein afrikanisches Ereignis bewegte die Welt dieses Jahr mehr als der Tod des südafrikanischen Aidswaisen Nkosi Johnson im vergangenen Mai oder die Odyssee des vermeintlichen Kindersklavenschiffs „Etireno“ vor der Küste Westafrikas im April. Beim großen panafrikanischen Filmfestival Fespaco in Burkina Faso siegte dieses Jahr der marokkanische Film „Ali Zaoua“, der vom Tod eines Straßenkindführers und der Trauer seiner hinterbliebenen Bande handelt. Und jetzt hat Henning Mankell, der in Mosambik beheimatete schwedische Autor, gleich zwei Bücher auf den deutschen Markt gebracht, die vom Sterben entwurzelter kleiner Afrikaner handeln.

„Der Chronist der Winde“ und „Die rote Antilope“ haben beide zehnjährige Jungen als Helden, die nach dem gewaltsamen Tod ihrer Eltern wider Willen in der Fremde zurechtkommen müssen. Nelio überlebt durch eine todesmutige Dummheit ein Massaker der Renamo-Rebellen in Mosambik und endet als tiefsinniger Führer einer Straßenkindergang in einer großen Hafenstadt, der vermutlich die mosambikanische Hauptstadt Maputo mit ihrem von Mankell geleiteten Theater Pate stand – ein Theater, das auch in diesem Roman eine entscheidende Rolle spielt, wie der nicht besonders schwedische Originaltitel „Comédia infantil“ besser deutlich macht als die schwergeistige deutsche Neutitelung. In zehn Nächten, zehn Akten eines doch eher tragischen Lebens, präsentiert Nelio seine Geschichte, gewissermaßen als Chronist seiner selbst, ein Hofsänger des demokratischen Zeitalters, in dem man keine Könige mehr preist, sondern die eigene Biografie.

Aber trotz der verkünstelten, eben theatralischen Darstellungsform überzeugt „Der Chronist der Winde“ durch seine schlichte und unprätentiöse Schilderung kindlichen Überlebenswillens zwischen Kriegsverbrechen und absoluter Armut. Danach betrachtet man Straßenkinderrudel in Afrika, diese lästige Begleiterscheinung der rapiden Verstädterung und sozialen Ungleichheit, mit menschlicheren Augen; selten wurde der Irrsinn des „stundenweisen Überlebens“ so ergreifend nahe gebracht. „Die Träume, die nur satte Menschen träumen“ kennen diese Kinder nicht; ihre Sorgen sind „ein Dach und ein Personalausweis – das war es, was der Mensch brauchte, außer Nahrung, Wasser, einem Paar Hosen und einer Decke“. Dass sie trotzdem träumen, wird Nelio und seiner Bande zum Verhängnis. Indem sie über sich hinauswachsen, richten sie sich selbst zugrunde, aber das wissen sie vorher nicht.

Die letztlich konservative Weltsicht – Veränderung ist die Wurzel der Katastrophe – prägt auch das Leben von Molo, genannt Daniel, dem gegen seinen Willen aus der Kalahariwüste nach Schweden verfrachteten Helden von „Die rote Antilope“. In der Frühzeit der deutschen Kolonisation des heutigen Namibia, um 1877, spielt dieser Roman, seiner Zeit der europäischen Eroberung Afrikas entsprechend eine einzige Katastrophengeschichte. Immer dann, wenn es schlimmer nicht mehr kommen kann, wird es erst recht schlimm.

Die schwedischen Charaktere sind sämtlich dermaßen ekelhaft, besonders Molos Entführer, der egoistische Pseudowissenschaftler Hans Bengler, dass man direkt aufatmet, wenn sein unmerklich in den Wahnsinn abgleitendes afrikanisches Opfer ihn allmählich als Subjekt der Handlung verdrängt. Schließlich in das schwedische Gegenstück zur Wüste geschickt, eine öde Lehmlandschaft voller physischer und menschlicher Kälte, weiß „Daniel“ sich nicht anders zu helfen, als sich zurück in die Heimat zu denken – eine Heimat, in der er irgendwann auch ankommt, wenngleich anders, als er dachte und eine Spur der Verwüstung hinterlassend.

Auch Molo hat Träume, aber es sind Albträume, von im Sand erstickenden Menschen, Ahnungen des Todes. Der Junge ist für seine Umgebung kein Held wie Nelio, sondern ein unheimlicher Fremder, den keiner versteht. Nur der Leser versteht, wieso er auf dem Bauernhof das Schwein erschlägt, das ihn verfolgt, und wieso er beim Gottesdienst eine Kreuzotter in die Kollekte steckt. Nicht Molo ist verrückt, sondern Schweden. Aber das ist eine Erkenntnis, die keine Befriedigung verschafft; sie unterstreicht eher noch die schnörkellose Unerbittlichkeit dieser lakonisch erzählten Geschichte.

„Die rote Antilope“ stößt ab, „Der Chronist der Winde“ macht neugierig; aber beiden Büchern liegt ein gemeinsames Thema zugrunde. Gegen Ende der Erzählung entdeckt Nelio es selbst, als er den alten indischen Händler Abu Cassmo besucht, um sich beim Studium eines zerrissenen Atlas aus der Mülltonne helfen zu lassen:

„Die Welt lässt sich nur auf schlechten Karten abbilden“, sagte Abu Cassamo. „Wie könnte man eine vollendete Karte von etwas herstellen, das so verwahrlost ist wie unsere Welt?“

Sie schwiegen.

„Wie findet man eine Insel, die auf keiner Karte verzeichnet ist?“ fragte Nelio schließlich.

„Man findet sie nicht“, antwortete Abu Cassamo.

Henning Mankell: „Der Chronist der Winde“, 268 Seiten; „Die rote Antilope“, 380 Seiten, beide Paul Zsolnay Verlag Wien, 36,01 DM bzw. 41,99 DM