Wofür ich gestimmt habe

Die Welt ist nicht genug (4): Anlässlich der Verleihung des Upton Sinclair Awards an Tim Robbins zollte dieser den Globalisierungsgegnern Respekt

■ Seattle, Tokio, Göteborg und Genua – die Weltordnung der „New Economy“ wird nicht länger als Chefsache akzeptiert. Mit der Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeit wächst auch der Widerstand. Wie aber sehen die Kritiker der Globalisierung aus? Was treibt sie an? Und welche Kultur entsteht aus dem neuen Protest?

von TIM ROBBINS

Vor ungefähr einem Monat kam in einem Theater in New York ein erregtes älteres Ehepaar auf mich zu. „Hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden“, empörten sie sich. „Womit?“, fragte ich zurück, obwohl ich die Antwort bereits ahnte. „Ihr Nader hat uns Bush beschert.“ Nun, das war nicht das erste Mal seit den Wahlen, dass ich von zornigen Liberalen attackiert wurde, für die meine Unterstützung für Ralph Nader Verrat und Blasphemie war; etwas, was dem Pissen auf die Verfassung gleichkommt. Vor den Wahlen wurden Susan (Sarandon) und ich auf den Meinungsseiten der New York Times angegriffen. Wir bekamen Drohbriefe per Fax von einer Feministin, die uns wegen unserer Unterstützung für Nader angriff. Eine Woche vor den Wahlen rief uns einer der Mächtigen aus Hollywood an. Er drängte uns, Nader anzurufen und ihn um die Aufgabe seiner Kandidatur zu bitten. Wenn Nader einwilligte, so der Mogul, würde er den Grünen 100.000 Dollar spenden. Ich versicherte ihm, dass kein Anruf den Mann umstimmen könnte, dass es hier nicht um persönlichen Einfluss und um Geschäftemacherei ginge und dass die Grünen sein Geld wahrscheinlich nicht annehmen würden. Nach den Wahlen las ich einen Aufsatz, in dem ein bekannnter Schauspieler die Anhänger von Nader kritisierte. Er nannte sie Limousinen-Liberale der schlimmsten Art, die mit den Anliegen der Armen nichts am Hut hätten. Es war nicht leicht, Nader zu unterstützen. Die Botschaft unserer Kollegen und Geschäftspartner sprachen deutliche Worte: Unsere Unterstützung für Nader wird uns teuer zu stehen kommen. (. . .)

Was soll man davon halten? Als jemand, der in der Vergangenheit immer defensiv gewählt hat und für den die Republikaner die Inkarnation allen Übels waren, verstehe ich die Reaktionen dieser Leute sehr gut. Ich mag diese Leute. Vor acht Jahren noch hätte ich genauso gedacht. Aber seitdem hat sich viel verändert. Nach Seattle hatte ich mit Freunden über die Proteste gesprochen, ebenso wie in Washington DC mit Aktivisten gegen IWF und Weltbank oder auf der Fifth Avenue mit einem Dreizehnjährigen, der vor „The Gap“ Flugblätter über Sweatshops verteilte. Und ich hatte gesehen, wie die Demokraten unter Clinton kontinuierlich nach rechts abdrifteten. Mir war klar: Diesmal würde ich meinem Gewissen folgen und nicht mehr taktisch wählen.

Gegenwärtig passiert etwas wirklich Bedeutendes. Eine neue Bewegung breitet sich langsam an den Universitäten aus, in den linken Gruppen Europas und in den weltweiten Menschenrechtsorganisationen. Die Proteste in Seattle 1999, die Proteste gegen IWF und Weltbank in Washington DC 2000 und die stete Gegenwart von Aufruhr, wo auch immer sich die Großen der Wirtschaft treffen, um die globale Wirtschaft und die globale Politik zu bestimmen, spiegeln nicht nur die Haltung linker und anarchistischer Randgruppen wieder, wie es die Medien gerne beschreiben. Solche Ereignisse entstehen aus einer breiten Koalition von Studenten, Umweltschützern, Gewerkschaften, Bauern, Wissenschaftlern und anderen betroffenen Bürgern, welche die Entscheidungen, die in diesen Cliquen gefällt werden, als vorderste Front des Kampfes um die Zukunft dieses Planeten verstehen. Diese Bewegung steckt noch in den Kinderschuhen. Ihre Moral nötigt uns Respekt ab, ähnlich wie die der frühen Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei im 18. Jahrhundert. Sie ist genauso wichtig wie die der Arbeiteraktivisten für Sicherheit am Arbeitsplatz und für die Abschaffung der Kinderarbeit in den frühen 50er-Jahren des 18. Jahrhunderts. Sie lässt sich ebenso wenig verdrängen wie die ersten Wissenschaftler, die die amerikanische Öffentlichkeit für die weitverbreitete Ausbeutung der Umwelt durch die Verschmutzung der großen Firmen hellhörig machten. All diese Bewegungen stießen bei beiden politischen Parteien auf völlige Ablehnung; von der Presse wurden sie zuerst ignoriert und dann kritisiert, während ihre Anhänger beschimpft, eingesperrt und zuweilen von der Polizei oder anderen Regierungseinrichtungen ermordet wurden. Aber wegen ihrer Hartnäckigkeit war es in diesem Land irgendwann möglich, Gesetze zu verfassen, die Sklaverei beendeten und Mindestlöhne, soziale Absicherung, Arbeitslosenversicherung, Verantwortung für die Umwelt und Sicherheit am Arbeitsplatz einführten.

Trotz der Jahre des Fortschritts auf diesen Gebieten in unserem eigenen Land sind wir nun mit dem Wiederaufblühen der Kinder- und Sklavenarbeit, mit unsicheren Arbeitsbedingungen in Sweatshops und der mutwilligen Zerstörung der Umwelt in der Dritten Welt konfrontiert; herbeigeführt durch eben jenes Firmenethos, das sich jahrelang gegen den gesellschaftlichen Fortschritt in den Vereinigten Staaten gewehrt hat. Im Interesse der Gewinnspannen und des Wirtschaftswachstums haben unsere Unternehmen nach der globalen Wirtschaft gegriffen und einen Weg gefunden, in vielerlei Hinsicht zu den Verhältnissen von 1850 zurückzukehren. Durch Freihandel und Nafta, Gatt und WTO dazu befähigt und ermutigt, haben wir unsere Probleme an andere Länder weitergegeben. Inmitten des Booms unserer Wirtschaft ist dies eine unbequeme Vorstellung. Darüber wird in unserer Presse nicht geschrieben. Aber es wird auf den Straßen herausgeschrien und die Argumente der Protestierer haben unwiderlegbares moralisches Gewicht. Ralph Nader war der einzige Kandidat, der über diese Themen sprach und sich der Bewegung annahm. Deswegen haben Susan und ich für ihn gestimmt.

Die Wahlen des letzten Jahres führte uns an einem wichtigen Scheidepunkt. Der knappe Ausgang der Wahlen hat uns die Augen geöffnet und den Blick auf die korrupte, manipulative und illegale Art und Weise gelenkt, in der in diesem Land Wahlen durchgeführt werden. Der surrealste und witzigste Moment des Wahljahres war das Angebot Fidel Castros, Wahlhelfer zu unseren Wahlen zu schicken. Abgesehen vom offensichtlichen Wahlbetrug in Florida, waren die Scheinwerfer für kurze Zeit auf den Rassismus gerichtet, der die Wahlen seit Jahren begleitet. Egal ob es sich um Straßenblockaden vor den Wahllokalen afroamerikanischer Wahlbezirke, um das Verschwinden afroamerikanischer Namen von Wählerlisten, um ineffektive und antiquierte Wahlmaschinen in Wahlbezirken mit niedrigem Durchschnittseinkommen handelt oder um die Aufdeckung des Supreme Courts als politische Partisaneninstitution, das Bild bleibt das gleiche. Amerikas herrschende Klasse hat Angst vor Demokratie.

Es gab eine Zeit, da hätte ich gesagt, dass es die bösen Republikaner sind, welche sich vor der Demokatie fürchten. Aber die traurige Wahrheit – zu der ich nach den Wahlen und den Reaktionen auf unsere Unterstützung für Nader gekommen bin– heißt, dass man auch die Demokaten zu dem Haufen zählen muss. Sie fürchten nicht nur die Demokratie, sondern viele in der Elite der Demokraten fürchten – oder hassen sogar – jeglichen Idealismus. Ich habe meinen Respekt gegenüber einer Partei verloren, die ihren progressiven Flügel eingeschüchtert hat, die keinen Widerspruch in den eigenen Reihen duldet und die versucht, den wichtigsten und einflussreichsten Verteidiger der Verbraucher der letzten 50 Jahre zu dämonisieren. Freilich sollte uns das nicht überraschen. Ähnlich reagierten sie schon früher in diesem Jahrhundert, als ein anderer führender Anwalt, Upton Sinclair, für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien kandidierte. Die Intriganten in der Demokratischen Partei taten alles, um ihn zu isolieren. Falls sie ihn überhaupt unterstützten, so geschah dies halbherzig. Einige unterstützten sogar seinen republikanischen Gegner Frank Merriam. Und die Presse? Sie dämonisierte ihn. Sagte, dass er gegen die Geschäftswelt sei und ein Egoist. Klingt das nicht bekannt?

Die meisten Unterstützer von Nader, die ich traf, gehörten zu der wahrhaftigen Sorte. Leute, die ihr Leben dem Eintreten für die richtige Sache gewidmet haben und im Zentrum des Kampfes auf schwierigem und widersprüchlichem Terrain stehen. Ihr politisches Engagement ging weit über das ihrer Kritiker hinaus und ihnen gebürte mehr Respekt als der, den man ihnen entgegenbrachte.

Die selbstgerechte und gönnerhafte Einstellung der Generation, die für die Beendigung des Vietnamkrieges und für die Rechte der Frauen gekämpft hat, ist enttäuschend und entmutigend, aber nicht unverständlich. Aber ich bin nicht der Meinung, dass Bill Clinton das Beste war, was diese Generation anzubieten hatte. Und ich würde gerne glauben, dass immer noch eine Kraft in diesen Progressiven schlummert, die sie die Bedeutung der neuen, um sie herum wachsenden Bewegung begreifen lassen müsste. Gerne würde ich glauben, dass die Kinder der Vietnamära, die gegen einen ungerechten Krieg protestierten, mit mehr beschäftigt waren als ihrem Davonkommen, mit Problemen jenseits der Gefahr durch den Vietnamkrieg. Gerne würde ich glauben, dass die Feministinnen endlich erkennen, welches Geschlecht hauptsächlich in den Sweatshops arbeitet und in die Sklaverei verkauft wird; dass sie diese Probleme als ihre eigenen annehmen und anfangen, über ihre Fortpflanzungsrechte als einzigen Lackmustest für unmittelbare Betroffenheit hinauszuschauen. Gerne würde ich glauben, dass wir alle von höheren Idealen bewegt werden; Ideale, die die ganze Welt angehen.

Die jungen Leute, die bei der Suche nach einer alternativen Partei geholfen haben – nach einer, die keine faulen Kompromisse für die Zukunft dieses Planeten eingeht und sich durch Parteispenden von Unternehmen aushalten lässt – diese jungen Leute glauben, dass die Demokraten und die Republikaner bei den zentralen Themen unserer Zeit auf der gleichen Linie liegen. Diese neue Bewegung ist eine Absage an die herkömmliche Politik; eine Absage, die eine beängstigende Wirkung hat, wenn man die Reaktionen des progressiven Lagers in Betracht zieht. Sind wir wie unsere Eltern geworden? Sind wir das Establishment? Sind wir nun der Status quo, der so zynisch diejenigen mit Idealen und Träumen ablehnt? Der zu den Idealisten sagt, dass es dafür keinen Platz in den Wahlen gibt, dass man strategisch wählen muss, dass wir uns unsere Träume nicht leisten können, dass wir das kleinere Übel akzeptieren müssen? Das Ehepaar im Theater, der Kolumnist auf der Meinungsseite, der Hollywood-Mogul und der Schauspieler rühren ihre Werbetrommel einmal alle vier Jahre für ihren Kandidaten und sprechen über deren Gegner, als ob ihre Wahl die Zivilisation, wie wir sie kennen, beenden würde. Der eine ist ein schwuler Kolumnist, der nicht für denjenigen Kandidaten stimmen wollte, der sich offen für die gleichgeschlechtliche Ehe aussprach. Der andere ist ein Mogul, der keine privaten Filmvorführungen in einem von den Republikanern geführten Weißen Haus haben wird. Der dritte ist ein Schauspieler, der sich angeblich um die Armen sorgt, der es aber nicht in die Kette der Streikposten schafft, um seine eigene Gewerkschaft zu unterstützen.

Ich habe keinen Respekt für Sofaaktivisten. Ich habe Respekt für die Jugendlichen vor „The Gap“, die keine Kompromise eingehen. Ich bin nicht bereit, ihren Idealismus, ihre Passion und Vision dem Erfolg einer Demokratischen Partei preiszugeben, die ins politische Zentrum strebt, die die Todesstrafe unterstützt, die den Sozialstaat auseinander nimmt und gleichzeitig ihre Fürsorge für die Unternehmen verstärkt; die half, dasjenige Wirtschaftssystem zu kreieren, das das Herz der Arbeiterbewegung zerfleischt.

Wie peinlich muss es für die demokratischen Senatoren sein, dass ausgerechnet ein Republikaner aus Vermont den politischen Mut in diesem Land verkörpert. Vielleicht ist es an der Zeit, aufzuhören, Menschen wegen ihrer politischen Ausrichtung zu verteufeln. Vielleicht sollte man dem Beispiel des Mannes folgen, der seine politische Zukunft riskierte, um auf seine innere Stimme zu hören. Das übliche Geschäft der Politik ablehnen und unseren Herzen folgen, Bündnisse an unmöglichen Orten formieren.

Es ist ein langer Kampf um Gerechtigkeit. Es sind Bewegungen von unten, die wahren Wandel herbeiführen; und keine dieser Bewegungen hat es jemals mit Hilfe von ideellen Zugeständnissen zu irgendetwas gebracht. Der wahre Wandel wird nicht auf Cocktailpartys in Washington oder im Lincoln Bedroom stattfinden. Es ist ein mühsamer und verwirrender Weg. Er bedarf ununterbrochener Agitation. Es dauerte über hundert Jahre des Eintretens gegen die Sklaverei, um sie zu eliminieren; über hundert Jahre, um der Kinderarbeit ein Ende zu setzen; über hundert Jahre, um den Mindestlohn durchzusetzen. Diese Bewegung steht noch am Anfang, aber sie ist lebendig und wird nicht nachgeben. Ihre Türen sind weit offen für euch. Eine beängstigende Schwelle muss überschritten werden, aber sie ist wesentlich.