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: Die ewige Wiederkehr der Leichen

Prätentiöser Wirrwarr

Man muss einfach die Chuzpe von Sophia Loren haben. Sie und Giancarlo Giannini stellen im neuen Film von Lina Wertmüller ein altes Ehepaar dar. Der Film läuft zwar nicht in Venedig, sondern in Montreal, aber auch egal. In einem Interview im Corriere della sera, das dramaturgisch passend zum Biennale-Auftakt erschien, nahm Madame Loren ihrer im Präfestivalrausch aufgeplusterten einheimischen Filmbranche gründlich den Wind aus den Segeln. Auf die Frage, wie sie denn die Qualität des italienischen Kinos einschätze, antwortete Loren einfach nur: „Ich schaue mir keine italienischen Filme an.“

Im Grunde waren es auch heimtückische Mittel, mit denen Venedigs Festivalchef Alberto Barbera dann doch einige hundert Menschen, von denen wahrscheinlich die Hälfte Frau Lorens Erfahrungswerte teilte, in die Vorführung von Giuseppe Bertoluccis „L’amore probabilmente“ („Die Liebe wahrscheinlich“) lockte. Dass Giuseppe ein Bernardo-Bruder ist, hatte man irgendwo gelesen, und Dynastien, die im gleichen Metier bleiben, umgibt nun mal die diffus-sympathische Aura eines traditionsbewussten, allen Versuchungen der Moderne trotzenden Handwerksbetriebes. Außerdem eröffnete der Film die in diesem Jahr neu eingerichtete experimentell-unorthodox-innovative Wettbewerbsschiene „Cinema del presente“ und galt somit als festivalpolitisches Ereignis. „L’amore probabilmente“ war dann allerdings aber auch so dermaßen unsagbar schlecht, dass man am liebsten den Neffen und den Alten und alle Bertolucci-Ahnen und das italienische Kino gleich ganz und gar verflucht hätte.

Es geht um italienische Schauspielschüler auf der Suche nach der Wahrheit im Theater, in der Liebe und im Leben. Dafür verbringt man ein Wochenende in einem luxuriös ausgestatteten Palazzo auf dem Land, wälzt sich auf dem Boden, hält Händchen und heult und diskutiert über Kunst und Beziehungen. Währenddessen probiert der verspielte Herr Bertolucci eifrig an der digitalen Kamera einen neuen Effekt nach dem anderen aus – „als hätte man eine Selbsterfahrungstheateraufführung mit der Gebrauchsanweisung eines Camcorders gekreuzt“, wie eine entnervte Kollegin treffend dazu meinte.

Leider setzte sich der prätentiöse Wirrwarr auch beim Eröffnungsfilm fort. Selbst wer nicht eingeschlafen oder früher gegangen war, hatte Schwierigkeiten, der Handlung von Milcho Manchevskis metaphysischem Balkan-Western zu folgen: Eine sterbende alte Frau im heutigen New York erzählt einem farbigen Kleinkriminellen eine hundert Jahre alte Geschichte, die vom Wilden Westen über Paris bis nach Mazedonien reicht und dabei kurioserweise den historischen Kampf der mazedonischen Milizen gegen die Türken mit der Bruderfehde zweier Cowboys und den korrupten Machenschaften des heutigen New York Police Department parallel schaltet. Es geht also um die ewige Wiederkehr der Gewalt oder auch die ewige Wiederkehr des Gleichen, die ja frei nach Nietzsche und laut Giorgio Agamben sowieso die ewige Wiederkehr der Leichen ist. Nach der Vorführung versuchte ich gemeinsam mit zwei Bekannten und einigen Gläsern Spritz, einem venezianischen Regionalgetränk, das aus einem Drittel Weißwein, einem drittel Soda und einem Drittel Campari oder Aperol besteht, dann doch noch ein paar nette Dinge über „Dust“ herauszufinden. Immerhin einigten wir uns auf eine gemeinsame Lieblingsszene. Wenn der texanische Cowboy plötzlich in die archaische mazedonische Landschaft gebeamt wird und sich mit ein paar Einheimischen bekriegt, lässt ein angeschossener weißbärtiger Schafhirte seinen Revolver fallen. In diesem Moment krabbelt ein nichts ahnender Mistkäfer durchs Bild und wird von der Waffe erschlagen. Das ist Schicksal.

KATJA NICODEMUS