einsatz in manhattan
: Tee mit Amerikas Ur-Avantgardist Charles Henri Ford

Ginsberg hui!, Kerouac pfui!

Saul Bellows, 96, J. D. Salinger, 82, Dorothea Tanning, 90, Charles Henri Ford, 93. Es gibt sie, die biblisch Alten einer vergangenen Kunst- und Literaturepoche Manhattans, deren längst verfasste Nachrufe in den Schubladen großer Zeitungen geduldig auf ihre Publikation warten. Vergangene Woche warteten mein jamaikanischer Dichterfreund Dwight Maxwell und ich mit einem Strauß Sonnenblumen einem quicklebendigen Charles Henri Ford auf, der seit den 60er-Jahren im gediegenen Dakota Building residiert. Jenes berühmte Apartmentgebäude aus Polanskis „Rosemarys Baby“, vor dem 1980 John Lennon erschossen wurde.

Tür 103 im 9. Stock des Dakota, Ecke Central Park West und 72. Straße, öffnet uns nicht Ford persönlich, sondern Indra Tamang, sein Assistent seit Jahrzehnten. Charles Henri ist noch im Bad, lässt sich für ein paar Minuten entschuldigen, und als er schließlich verschmitzt lächelnd im Wohnzimmer erscheint, kann man die sorgfältig gezogenen Kammlinien in seinem schlohweißen Haupthaar und Bart erkennen. Er sieht mal wieder so aus, als hätte er kurz zuvor noch in seinem eigenen Gesicht geschlafen. „Sonnenblumen, wie wunderschön, meine Lieblingsblume, meine Lieblingsfarbe“, säuselt er sogleich liebevoll.

Ford geht ohne Stock, ist groß und schlank, bewegt sich beinahe schlaksig, sieht hervorragend ohne Brille und wird Dwight Maxwell nach herzlicher Umarmung für den Rest unseres Besuchs als junge Frau ansprechen. „Möchte sie noch etwas Tee?“ und „Schmeckt ihr auch der hervorragende Zitronenkuchen?“ So sind die Freuden eines greisen Homoerotikers, dessen unerhört freizügiger, 1933 erschienener Roman „The Young and Evil“ sofort verboten und eingestampft wurde. Dafür gilt er heute als auflagenstarke Fibel der US-amerikanischen Schwulenbewegung. Gertrude Stein hatte das Buch damals mit Fitzgeralds „This Side of Paradise“ verglichen und prophezeit, es würde mit ähnlicher Wucht eine ganze Generation aus der Taufe heben.

Die gute Dame war Ford ohnehin wohlgesinnt. Seine 1929 begründete Zeitschrift Blues, die moderne Dichter wie Ezra Pound und William Carlos Williams veröffentlichte, lobte Stein als „youngest and freshest of all the little magazines which died to make verse free“. Schulabbrecher Ford, der die leider nur kurzlebige Zeitschrift ausgerechnet aus dem tiefsten amerikanischen Hinterland, seinem Geburtsort Columbus in Mississippi, publizierte, schrieb damals kurzerhand alle wichtigen Vertreter der Moderne an und bat mit Erfolg um deren Zeilen.

1931 siedelt er nach Paris und von dort nach Marokko über, wo er in Tanger „Nightwood“, das Manuskript seiner Freundin Djuna Barnes abtippt. „Von Rechtschreibung verstand die Gute erschreckend wenig“, erinnert sich Ford an das Buch, das wie kein anderes radikal mit der realistischen Erzählweise des amerikanischen Romans brach. Von 1940 bis 1947 gibt Ford, wieder zurück in New York, View heraus, die erste amerikanische Avantgardezeitschrift, mit Texten und Kunst von Exilkünstlern wie André Breton, Max Ernst, Marcel Duchamp und Yves Tanguy. Aber auch Henri Miller, Albert Camus, Jean-Paul Sartre und Jean Genet finden Einlass. So werden mit View Surrealismus und Existenzialismus erstmalig in den USA vorstellig.

Und ganz früh schon soll er Allen Ginsbergs Bekanntschaft gemacht haben? „Er meine, nicht ich seine“, berichtigt Ford feinsinnig, der eben auch Ginsbergs Verse in View als Erster veröffentlichte. Als dieser ihm auf einer „Riesenwalze“ aneinander geklebte Manuskriptseiten eines Freundes schickt, schüttelt Ford nur den Kopf: „Allen, bist du Analphabet? Ich gebe Prosadichtung heraus und keine Schreibmaschinenseiten.“ Fünf Jahre später erscheint Jack Kerouacs Roman „On the Road“ bei einem anderen Verlag, die „Riesenwalze“ des Originalmanuskripts wurde bei Christie's im Mai für 2,4 Millionen Dollar versteigert.

Nicht dass Ford so etwas sonderlich interessiert. „Kerouac wurde so schnell zur Ikone, eine Celebrity, aber er hat diese Rolle mit Hilfe eines langen Barts ganz anständig gemeistert.“ Ford dagegen kokettiert mit seiner Bescheidenheit. Spricht man ihn darauf an, wie vielen Künstlern und Schriftstellern er in den USA zum Durchbruch verhalf, sagt er nur: „Ich habe sie nicht gefördert, sondern bin bei allem, was ich tat, lediglich meinem Geschmack gefolgt.“

Ob er jemals in Deutschland war, will ich noch wissen. Ford grübelt, bis Assistent Indra im nachhilft: „Du warst in München.“ – „München!“ fällt es Ford wieder ein, „wo es diesen Park gibt, in dem die Menschen nackt herumlaufen!“

Bisher sind knapp zwanzig Gedichtbände von Ford erschienen, 1972 kam sein „Johnny Minotaur“ in die Kinos, ein erotisches Mysterientheater, gefilmt in seinem Sommerhaus auf Kreta. New Yorks Galerien zeigen seine Posterdesigns, Künstlerpostkarten und Fotografien berühmter Zeitgenossen. „Leider gibt es kein Porträt von John Lennon, seiner Frau Yoko Ono und dem Söhnchen Sean“, erzählt Ford, als ich ihn auf den einstmaligen Mitbewohner des Dakota anspreche. „Die kamen hier vorbei und wir wollten auf dem Dach fotografieren, aber es regnete. Kurz darauf hat man ihn dann erschossen.“

Seit Jahren schreibt Ford täglich Haikus und bastelt an bunten pornografisch-abstrakten Collagen, seinen Cut-outs. Am 14. September erscheint „Water from a Bucket“, Fords Tagebücher von 1948 bis 1957, und wenige Tage zuvor ist die Premiere von „Sleep in a Nest of Flames“, einem Dokumentarfilm über das Leben des Doyens der US-Literatur.

Unmittelbar vor seinem Tod hat William Burroughs dazu mit seinen „Bemerkungen zu Charles Henri Ford“ beigetragen. Darin heißt es, Ford besitze einen „enigmatischen, unheimlichen Charme“, er sei „Angehöriger einer geisterhaften Elite und besitzt das ‚Zeichen‘ der Auserwählten“. Burroughs eben.

Der Auserwählte ist indessen aufgestanden und hat singend begonnen, aus Modezeitschriften Material für seine Cut-outs zu reißen. Es wird Zeit zu gehen. Ford erhebt sich. „Don't be strangers now“, sagt er und bittet Dwight und mich, jederzeit wieder vorbeizuschauen. Galant winkend steht er noch im Raum, als Indra hinter uns die Wohnungstür schließt. „Bei allem was er tut, bleibt Ford Dichter“, schrieb Jean Cocteau vor über einem halben Jahrhundert. Daran hat sich bis heute nichts geändert. THOMAS GIRST