Die Mär von der Kostenexplosion

Das Defizit der Krankenkassen entsteht nicht durch steigende Ausgaben für die Patienten. Die Einnahmen brechen weg – vor allem, weil sich die Arbeitgeber entziehen

Die Aufteilung in Wahl- und Pflichtleistungen der Krankenkassen senkt ebenfalls den Arbeitgeberanteil

Einmal mehr ist die Rede von „explodierenden“ Kosten im Gesundheitswesen. Und einmal mehr hätten diese Ausgabensteigerungen ein „Rekorddefizit“ zur Folge. Auf fünf Milliarden Mark beläuft es sich gerade, wie Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gestern bekannt gab. Doch was sind explodierende Kosten? Und was verursacht die entstehenden Rekorddefizite?

Selbst in seriösen Zeitungen und Zeitschriften findet man in Artikeln zur Diskussion über die Gesetzliche Krankenversicherung Balkendiagramme, die eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen belegen sollen. Dazu werden Kostensteigerungen in DM zum Beispiel zwischen 1960 und der Gegenwart grafisch aufgetragen. Die nahe liegende Interpretation der stark ansteigenden Balkenlängen: Es ist nicht vorstellbar, dass unser Gesundheitssystem in Zukunft noch bezahlbar ist. Doch hier führen selbst richtige Zahlen zu falschen Schlüssen.

Zunächst vergessen die Autoren, dass es Inflation gibt. Diese betrug zwischen 1960 und 2000 128 Prozent. Erst eine Kostensteigerung um weit mehr als den Faktor 2, mithin die Verdopplung der Balkenlänge in entsprechenden Grafiken, würde eine Konstanz der Kosten bedeuten.

Die Kosten im Gesundheitswesen haben sich seit 1960 natürlich weit mehr als verdoppelt – schließlich wurde das medizinische Angebot deutlich ausgeweitet und verbessert. Man stelle sich vor, die Gesundheitsausgaben wären nur im Ausmaß der allgegenwärtigen Inflation gestiegen: Dann bekämen Beschäftigte im Gesundheitswesen heute Löhne, wie sie vor 40 Jahren üblich waren. Schon diese einfachen Zusammenhänge machen deutlich: die absoluten Kosten des Gesundheitswesens können und dürfen überhaupt nicht konstant bleiben. Der Anstieg wird wenigstens in Höhe der Zunahme der realen Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft liegen, und diese betrug zwischen 1960 und 2000 rund 120 Prozent. Wenn Löhne steigen, dann tun sie das auch im Gesundheitswesen; und wenn die Produktivität der Wirtschaft wächst, so sind neue, bessere, aber häufig eben auch teurere Medikamente, Diagnose- und Therapieverfahren die Folge. Es ist sogar zu erwarten, dass sich die Gesundheitsausgaben mit steigendem Wohlstand überproportional erhöhen, da sich erst eine reiche Gesellschaft eine teure medizinische Versorgung leisten kann – und zumeist auch will.

Will man also eine vernünftige Diskussion über unser Gesundheitswesen führen, so muss man immer den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) untersuchen. Und wenn man diese Zahlen betrachtet, wird das Geschrei um eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen völlig unverständlich. Legt man Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft zugrunde, so stieg der Anteil der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1960 und 1980 von 3,1 auf 6,1 Prozent und blieb danach für zehn Jahre in etwa konstant. Zwischen 1991 und 1995 stieg der Anteil von 6,2 auf 6,8 Prozent, doch seit 1995 sinkt der Anteil der Ausgaben am BIP wieder ab. 1998 betrug er 6,6 Prozent, wo er bis heute verharrt: Gegenwärtig von einer „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen zu reden ist ein frei erfundenes Märchen.

Selbst wenn man die Kosten des gesamten Sozialsystems, also Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung zusammen betrachtet, findet man keine Steigerungen: der Anteil der Sozialausgaben am BIP, die so genannte Sozialleistungsquote, betrug bereits 1975 33 Prozent; zwischen 1980 und 1990 sank sie trotz steigender Arbeitslosigkeit auf unter 30 Prozent; aufgrund der Wiedervereinigung stieg sie auf 33,9 Prozent an, sinkt jedoch seit 1997 kontinuierlich ab. Die Kosten des Sozialstaates haben sich seit 26 Jahren offensichtlich nicht großartig geändert.

Ein eklatanter Widerspruch tut sich auf: Während die Kosten des Sozialsystems konstant bleiben – also nur im Umfang des Bruttoinlandsprodukts wachsen –, müssen die Arbeitnehmer einen ständig steigenden Anteil ihrer Gehälter an die Sozialsysteme abgeben. Die Beiträge zur Krankenversicherung betrugen 1980 11,4 Prozent, im Jahr 2000 lagen sie bei ca. 13,6 Prozent; es war also eine Steigerung um 20 Prozent zu beobachten. Dies hat zwei zentrale Gründe:

1) Die Löhne stiegen in der Vergangenheit häufig langsamer als das BIP: Wenn etwa die Kosten des Sozialstaates sowie das BIP real um 3 Prozent steigen, gleichzeitig die Löhne aber nur um 2 Prozent, so muss die Abgabenbelastung der unselbstständig Beschäftigten zunehmen.

1980 beteiligten sich die Unternehmen mit 32 Prozent an den Kosten des Sozialstaats, 1998 mit 27 Prozent

2) Weniger Versicherten stehen mehr Leistungsbezieher gegenüber: Wenn etwa die Zahl der Arbeitslosen steigt, so müssen deren Versicherungsleistungen von den Beschäftigten miterwirtschaftet werden. Wenn der Anteil an nicht versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen zunimmt, wird das Verhältnis ebenfalls ungünstiger.

Das Problem der Sozialsysteme ist nicht auf der Ausgaben-, sondern auf der Einnahmeseite zu suchen. Will man die Abgabenbelastung reduzieren, so kommt man nicht umhin:

– die Versicherungspflicht – ähnlich wie in der Schweiz – auf alle Beschäftigtengruppen auszuweiten, also vor allem auch auf die Selbständigen,

– die Beitragsbemessungsgrenzen abzuschaffen,

– Gewinn- und Vermögenseinkommen in die Beitragspflicht einzubeziehen und

– Lohnsteigerungen zumindest in Höhe des Bruttoinlandsprodukts durchzusetzen.

Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist seit 1975 konstantgeblieben

Im Jahre 1980 – so ist einer Aufstellung des Instituts der Deutschen Wirtschaft zu entnehmen – beteiligten sich die Unternehmen mit 32 Prozent an den Kosten des Sozialstaats. Diese Beteiligung (vor allem über die Arbeitgeberbeiträge) wurde fortan Jahr für Jahr zurückgefahren, im Jahr 1998 betrug sie nur noch 27 Prozent. Diese Verringerung um fünf Prozentpunkte bedeutet Einsparungen der Unternehmen in Höhe von 64 Milliarden Mark. Hätte es diese Verschiebung nicht gegeben, könnten die Beiträge zur Sozialversicherung um 10 Prozent geringer sein.

Bei der Finanzierung der Pflegeversicherung kauften sich die Unternehmer frei, indem sie die Streichung eines Feiertags durchsetzten. Bei der Altersvorsorge haben sich die Arbeitgeber auch entlastet: Seit der Rentenreform sorgen die Arbeitnehmer in Teilen privat vor. In der Gesundheitsdiskussion bahnt sich Ähnliches an: Die Aufteilung wichtiger medizinischer Leistungen in Pflicht- und Wahlleistungen (etwa Anschluss-Rehas) stellt nichts anderes als eine Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung dar. Ebenso verstärkt sich der Trend, dass man für essenziell benötigte medizinische Versorgungsleistungen unter Umständen hohe Zuzahlungen zu leisten hat – etwa für Krankenhausaufenthalte oder Fahrtkosten. Auch dies ist ein schleichender Rückzug der Arbeitgeber vom paritätischen Gesundheitswesen. Die diskutierte höhere Wahlfreiheit der Versicherungsnehmer, im Falle teurer Operationen auch Zuzahlungen von zum Beispiel 1.000 Mark zu leisten und dafür geringere Versicherungsbeiträge zu entrichten, senkt im Durchschnitt natürlich ebenfalls die Arbeitgeberbeiträge und belastet dafür die Arbeitnehmer, denn die Kosten entstehen in jedem Falle.

Fazit: Dass Einsparpotenziale in der Gesundheitsversorgung existieren und realisiert werden müssen, ist unstrittig. Doch ständige Krisenmeldungen aus den Gesetzlichen Krankenversicherungen sowie aus allen anderen Sozialsystemen führen zu einer Stimmung, die eine Privatisierung und Deregulierung dieser Systeme gutheißen. Dabei werden Kostenprobleme maßgeblich dadurch verursacht, dass sich wohlhabende Schichten aus der Finanzierung dieser Systeme zurückziehen – und keinesfalls durch irgendwelche „Kostenexplosionen“. Gäbe es die geschilderten Verschiebungen zuungunsten der Arbeitnehmer nicht und hätten auch Billigjobs, Scheinselbstständigkeit und Arbeitslosigkeit nicht zugenommen, die Sozialbeiträge wären seit 1975 überhaupt nicht gestiegen. Denn die Ausgaben für unser Sozialsystem haben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt seit 25 Jahren nicht zugenommen, trotz steigender Arbeitslosigkeit und steigender Umschulungsmaßnahmen, trotz High-Tech-Medizin und trotz ungünstigerer Demografie! Wer diese Zusammenhänge nicht benennt und stattdessen die Unbezahlbarkeit der Sozialsysteme suggeriert, entzieht ihnen die Akzeptanz und forciert die neoliberale Sparwut. HARALD KLIMENTA