Das Paradies im Kokon

Dea ex Machina, Halbgöttin, Cyborg: Bei Björk gehörte die Selbststilisierung zum künstlichen Naturwesen schon immer zum persönlichen Fabelwald. Auf „Vespertine“, ihrem neuen Album, treibt die isländische Sängerin diese Verschränkung zu radikaler Intimität: Ein Versuch über die pure Schönheit

von SEBASTIAN HANDKE

Wenn es Nacht wird und kalt, gib Acht, dass dir die Polarnacht nicht die Sinne verdunkelt! Vergiss nicht, dass es auch im Dunkeln blüht, manche Knospe jetzt erst sich öffnet: zum Abendgebet, zur nächtlichen Vesper, dem Polarlicht zum Gruße. „Vespertine“, nach vier Jahren wieder ein Album von Björk, hat alles, was es braucht, um den Winter schadlos zu bestehen: „aurora goddess sparkle!“

Die Vesper ist das Abendgebet, und das macht man alleine, am besten an einem versteckten Ort, als wäre es ein Selbstgespräch. „Hidden Place“ heißt folglich das erste Stück, und es erzählt davon, wie durch bloße Imagination ein Ort entsteht, der unzerstörbar ist. Die Beschaffenheit dieses Ortes wird im nächsten Song, „Cocoon“, gleich näher bestimmt, und so ist schon zu Beginn der Raum beschrieben, der eingenommen werden soll: die behagliche Ruhe schützend isolierter Intimität. „ ‚Vespertine‘ ist wie einer dieser Tage, wenn es draußen schneit und du bist drinnen mit einer Tasse warmem Kakao und alles ist sehr magisch“, gab Björk bei mtv.com zu Protokoll. „Du bist euphorisch, sprichst aber nicht, tagelang, weil du es nicht willst.“ Björk allein zu Haus. Im Mai sollte das Album eigentlich erscheinen, da hieß es noch „Domestica“.

Ekstase der Drehpausen

Unmöglich, sich für ein solches Projekt in die ungemütlichen Herstellungszellen eines Tonstudios einzumieten. Also bezog man eine Wohnung in Soho, New York, und richtete sich dort Wohnstatt und Studio ein. Björk arbeitet ohnehin ungern im Studio: Wenn der Blitz der Inspiration einzuschlagen droht, muss die Aufzeichnungstechnik sofort zur Verfügung stehen, deshalb hat sie das Nötigste stets bei sich. „Authentisches“ Kunstwollen solcher Art ist natürlich der feuchte Traum eines jeden PR-Beauftragten – wie auch für den sonst als Filmemacher bekannten Lars von Trier, der mit „Dancer in the Dark“ kaum etwas anderes tat, als die Legenden zu multiplizieren – von Gutfrau Björk, für die das Leben ein bunter Traum ist und die nicht anders kann, als jedes noch so unbedeutende Geräusch ihrer inneren Musikdramaturgie einzuverleiben. Diese Vermischung von Filmfigur, Privatperson und Künstlerin muss unendlich anstrengend gewesen sein, noch dazu für eine Darstellerin, der es offensichtlich selbst schwer fällt, die Ebenen zu trennen. Solche „Unprofessionalität“ aber ist typisch für das komplexe Phänomen Björk und auch ein Grund dafür, dass sie wie kaum eine andere Künstlerin der Aufdringlichkeit aggressiver männlicher Fans („Stalker“) ausgesetzt ist.

Das größtenteils zu jener Zeit, in den Drehpausen – „wie ein Hobby“ –, entstandene neue Album geriet zum Rückzug. „Ich wollte mit diesem Album erforschen, wie es im Innern klingt: diese Ekstase, der Zustand der Euphorie, welcher sich einstellt, wenn man flüstert.“

Doch nicht nur, dass hier endogen geforscht wird. Das Vorgefundene wird geteilt, nach außen gestülpt; mehr noch, man wird hineingezogen von einem unwiderstehlichen Sog schmeichelnder Klänge, „It’s warmer now, lean into it / Unfold in a generous way / Surrender“. Gefordert wird die bedingungslose Bereitschaft zum grenzüberschreitenden Kontakt: von der Musik sich einnehmen lassen wie von der Präsenz eines geliebten Menschen. „I swallow little glowing lights, my mother and son baked for me / while I’m asleep my mother and son pour into me / warm glowing oil / into my wide open throat“. Musik, die davon spricht, wie heilsam es ist, wenn man sich einfindet in der Körperzone des anderen. „He slides inside“ heißt es in „Cocoon“, „When I wake up in his arms, gorgeousness: he’s still inside me!!!“

Immer tiefer folgt man diesem sonischen Eskapismus bis zur Mitte des Albums, jenem unfassbaren „An Echo, A Stain“, einer dunklen, intrauterinen Klangwelt, die einem Angst machen kann: „Feel my breath on your neck / And your heart will race / You can’t say no to me / I won’t see you denied / I’m sorry you saw that / Say Nothing / Complete“.

Im Körper der Stimme

Gelegentlich gibt es auch Raum für Erholung, wie etwa das mit einem wunderbar entspannten Break des „Hobby Industries“-Elektronikers Thomas Knak (Opiate) aufwartende „Undo“; oder „Unison“, der heitere Schlusstrack: ein Muster in der Kunst des verzögerten Anfangens und ein zeitweise kurioses Schunkelstück; es ist der Epilog, der hoffnungsvoll in die Realität entlässt.

Ein umfassendes Instrumentarium des Schönklangs wurde für „Vespertine“ zusammengestellt: Streicher, Chor, Harfe, Celesta, Glockenspiel und Glasharmonika, warme Synthesizer sowie eine Maschinenprogrammierung, deren teils biomorphe Klänge eine taktile Qualität haben, wie es bisher selten zu hören war. Sie vermischen sich mit dem Orchestertableau, rauen das Panorama auf und bringen es zum Vibrieren; Mark „Spike“ Stent verbindet die Zutaten zu einer überwältigenden Klangskulptur.

Diese radikale Ästhetik ist nicht ganz ungefährlich, denn Björks Songs an sich sind von jeher nicht wirklich prägnant – wie Rezitative eher, die ihrer Stimme den Platz einräumen, den diese für sich beansprucht. Daher auch konnten immer diejenigen Remixe so überraschen, die den Gesang kurzerhand neu harmonisieren – etwa wie jene „All Is Full of Love“-Bearbeitungen von Mark Stent, Plaid und Funkstörung. Björks Stimme war die Substanz, die alles zusammenhielt, mit wechselnder und durchaus heterogener Beleuchtung durch die Musikelektronik; ein Eindruck, der durch Kollaborationen mit verschiedensten Künstlern noch verstärkt wurde. Auch auf „Vespertine“ ließ Björk sich von Zeitgenossen inspirieren. Matthew Herbert zum Beispiel, jenes Produzentengenie, das sich in seinem „Manifest für die Komposition von Musik“ das Sampeln fremder Musik verbietet, oder Matmos, ein Laptop-Duo aus San Francisco und ein ewiger Geheimtipp. Doch sie schauten eher mal kurz vorbei, wie gute Freunde, und ließen ein paar Ideen da. „Homogenic“ nannte Björk ihr letztes Album, ihre Musik ist es erst jetzt.

Chiffren des Weiblichen

Wie andere Künstlerinnen vom Singer/Songwriter/Producer-Typus spannt auch Björk eine Projektionsfläche auf für Bilder des Weiblichen. Ein wenig Riot gab es da genauso wie unverborgene Verletzlichkeit; die Kindsfrau mit Punkvergangenheit: Narziss, Anarchistin und „true artist“. Björk hat da ihr eigenes Mysterium geschaffen, das nicht umsonst mit einem gänzlich anderen Körper auskommt als Madonna oder Janet Jackson: vor allem dem ihrer Stimme. Von Lyrics, Images und anderen Legenden unterfüttert, transportiert ihr Gesang das Bild des quasi-mythischen Naturwesens: der altisländische Gesang, die modale Melodik, die „unausgebildete“ Stimme mit ihren vulkanhaften Ausbrüchen – aus inneren Schichten wohl, als sei das Medium Björk sich zu wehren nicht mehr im Stande. Isländische Sentenzen werden eingestreut wie geheimnisvolle Runen; mit zeitloser Weisheit versehen („All these modern things, have always existed“) und gelegentlich auch omnipräsent, dann multipliziert sich ihr Stimme zu kurzen Passagen polyphonen Überwältigungsgesangs. Paradoxerweise findet sich die Naturnähe stets verbunden mit modernster (Musik-)Technologie, fast immer „cutting edge“, zumindest aber um Futurismus bemüht. Diese Bilder finden sich zuhauf auch im Artwork und in den Videoclips, seien es die Eisbär-Mutationen von „Hunter“, das porzellanweiße Androiden-Kamasutra in „All is Full of Love“ oder der Film zur ersten „Vespertine“-Singleauskopplung „Hidden Place“: ein computergenerierter schimmernder Nektar kreist wie eine musikalische Schleife durch das innere Labyrinth in Björks Kopf; die Kamera, ganz auf das Gesicht fixiert, folgt seinem Fluss, doch sehen kann man ihn immer nur dann, wenn er aus ihren Augen austritt, mit sanftem Schwung über die Wange gleitet und im Mund wieder verschwindet.

Cyborg und Fabelwesen

Björk lässt so in isländischer Dialektik ein Fabelwesen entstehen, das die naturnahe Halbgöttin verschränkt mit dem technophilen Cyborg: eine wahre Dea ex Machina. „I was born to nurse my generation“, das hat ihr ein Horoskop vorausgesagt. Für diese Pflege wohl wurde sie letzte Woche in Paris mit den Orden „Chevalier de l’Ordre National du Mérite“ ausgezeichnet. Mit „Vespertine“ hat diese sorgfältige Konstruktion ihren Höhepunkt erreicht. Nie war Björk dem Dance-Floor, dem Punk, dem vordergründig Innovativen ferner als hier, alles ist reiner, suggestiver Klang, mit Feinsinn komponierte Kammermusik – wenn auch stets, nachdem der Faden gesponnen ist, der Kokon sich öffnet zur Kathedrale: kaum ein Titel, in dem die Stimme Björks nicht eingelassen ist in diesen Klanggrund aus Chor, Harfe und Orchester. „Vespertine“ ist fast vollständig geprägt durch dieses Idiom, von den Impressionisten erfunden zur Gestaltung weiblich konnotierter Erhabenheit (Sonnenaufgänge, Nachtstücke; das Meer), zum Allgemeinplatz geworden im Film, der es zur Chiffre des (Über-)Natürlichen machte. Da ist sie nun – zum ersten Mal bei Björk – die Gefahr des musikalischen Klischees.

Diese Bild- und Klangwelten, die Erforschung von Innerlichkeit, das Wunder der Verschmelzung und die Selbststilisierung zum künstlichen Naturwesen waren immer schon ein Teil des Björk’schen Fabelwalds. „Vespertine“ ist ihre Feier. „Ich war zum ersten Mal in meinem Leben richtig überzeugt von etwas, als ich beschloss, mit diesem Album ein Stück vom Paradies zu kreieren, einen Kokon“, lässt uns Björk über ihre Plattenfirma mitteilen. „Man kann ihn nicht überall mit hinnehmen; an bestimmten Orten würde er kaputtgehen. Aber man glaubt daran, dass er eine Existenzberechtigung hat, weil er von den Menschen so gebraucht wird.“

Siehst du die Widmung im Booklet? May the fresh sprinkle of care snow all over you. „Vespertine“ ist die betörendste Therapie, der man sich zum Sommerende verschreiben kann. Aber: Man muss ihn auch aushalten können, diesen rücksichtslosen Versuch über pure Schönheit.