Autobiografie per Buntstift

Tierwelt mit kleinen Macken: Wolf Erlbruch kennt man durch seine Maulwürfe, Bären und Krokodile. Das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover zeigt nun das Gesamtwerk des Kinderbuchzeichners

von STEFAN KOLDEHOFF

Eine kleine Macke haben sie alle. Und irgendwie will keiner von ihnen tun, was alle Welt erwartet: Der Adler mag partout nicht fliegen. Kröte und Ratte, Fledermaus, Spinne und Hyäne sind so hässlich, dass sich sogar die anderen Tiere vor diesen „Fürchterlichen Fünf“ fürchten. Dem kleinen Maulwurf hat irgendjemand auf den Kopf gemacht. Der große braune Zottelbär weiß nicht einmal, wo die kleinen Bären herkommen. Und Eduard Speck, dem stolzen Schwein vom Scheffelhof, geht ohnehin alles schief, was es anfasst.

Vielleicht lieben Kinder und Erwachsene die Bilderbücher von Wolf Erlbruch deshalb so – weil es in ihnen keine Helden gibt, keine pseudopoetischen Heile-Welt-Idyllen wie bei Helme Heine, keine nostalgische Naturromantik wie bei Janosch, und weil trotzdem Probleme gelöst werden. Wolf Erlbruchs Kinderbücher sind Bestseller, und die Verlage reißen sich um den 52-jährigen Wuppertaler, der nach seinem Studium an der Essener Folkwangschule als Illustrator und Werbegrafiker begann und in den Achtzigern mit den coolen Löwen der Tabakfirma „Samson“ auf der Rückseite jedes Stadtmagazins vertreten war. Den Peter Hammer Verlag, der in seiner Heimatstadt die ersten Erlbruch-Bücher herausgab, hielt deren Absatz jahrelang über Wasser. Die Geschichte vom erbosten „Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hatte“, ging allein in der deutschen Ausgabe bislang mehr als 600.000 Mal, mit den 20 fremdsprachigen Übersetzungen über eine Million Mal über den Ladentisch. „Das Bärenwunder“ räumte den Deutschen Jugendliteraturpreis ab, „Die Menschenfresserin“, „Frau Meier, die Amsel“ oder die von Erlbruch bebilderte Schöpfungsgeschichte „Die Werkstatt der Schmetterlinge“ der nicaraguanischen Autorin Gioconda Belli wurden allesamt von der Zeit zu Büchern des Monats gekürt.

Vielleicht untersucht in einigen Jahren eine hoffnungsvolle Doktorandin die autobiografischen Bezüge in Erlbruchs Werk. Sie wird entdecken, dass die Hyäne aus den „Fürchterlichen Fünf“ Saxofon spielt wie ihr Zeichner, dass die Kröte über ebenso große Japan-Affinität verfügt, dass Erlbruchs Sohn tatsächlich Leonard heißt und in jungen Jahren Angst vor Hunden hatte, und dass Eduard Speck seinem Schöpfer ähnlich sieht.

Dass Erlbruchs Bücher auch große Kunst sind, zeigt zur Zeit eine Ausstellung im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover. Zum ersten Mal seit einer kleineren Werkschau vor einigen Jahren im Bilderbuchmuseum in Troisdorf sind – quer durch alle Bücher – die Skizzen und Entwürfe zu sehen, die schließlich zum typischen Erlbruch-Stil führten: jene Mischung aus Collagen und Buntstiftzeichnung, die einem Kurt Schwitters in nichts nachsteht und zugleich die jeweils erzählte Geschichte um eine zusätzliche Ebene erweitert. Erlbruch illustriert nicht, er phantasiert selbst und lässt sich dabei von den grafistischen Strukturen einer alten Logarithmentafel ebenso anregen wie von einem banalen Bogen Packpapier.

Der berühmte Blick auf den Schreibtisch des Zeichners ist auch in Hannover nicht völlig frei von hagiografischer Peinlichkeit: Wer bitte muss die originalen Buntstifte eines Grafikers sehen? Einen Katalog zur Ausstellung gibt es leider nicht. In einigen Jahren, heißt es im Museum, sollten stattdessen lieber Erlbruchs gesammelte Werke erscheinen.

Ansonsten aber gelingt das Experiment. Sichtbar wird, wie sich die Figuren einer Geschichte schon in den ersten Skizzen erstaunlich wenig von ihrer endgültigen Fassung unterscheiden. Erlbruch selbst beschreibt seine Arbeit allerdings durchaus als längeren Prozess: „Wenn nicht Bilder im Kopf entstehen, in denen ich selbst rumlaufen, mich ausstrecken und hinlegen kann, lehne ich eine Geschichte ab. Sonst versuche ich, sie zu gliedern, überlege, ob nicht vielleicht die Nebengeschichten viel interessanter für den Zeichner sind als der Haupterzählstrang, und passe höllisch auf, dass ich in meinen Zeichnungen mehr als nur den Text wiedergebe. Dann kommt die Arbeit an den Charakteren. Wenn ich die schließlich sehr genau kenne, kann ich mit ihnen auch machen, was ich will. In der Regel dauert die Vorarbeit unheimlich lange. In den vierzehn Tagen vor dem Abgabetermin arbeite ich dann nächtelang.“ Wer allerdings nach einer Lesung einmal erlebt hat, mit welcher Geschwindigkeit Erlbruch Kindern nach deren Wünschen Tiere in ihre Bücher zeichnet, kann dieses Ringen nur schwer nachvollziehen.

Die Ausstellung ist noch bis zum 14. 10. in Hannover zu sehen. Informationen: www.wilhelm-busch-museum.de