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: Essen, trinken, singen und heiraten zwischen Houston und Delhi: Deutsche Opernfilme und Bollywood-Sozialdramen bei der Venedig-Biennale

Im Flow der morphogenetischen Felder

Morphogenetische Felder nennt man, glaube ich, die irritierende Tatsache, dass sich plötzlich Zusammenhänge zwischen eigentlich völlig zusammenhanglosen Symptomen und Erscheinungen ergeben. Wenn man zum Beispiel zwei unbekannten Menschen an einem beliebigen Tag hintereinander begegnet und beide das seltene Tier Schabrackentapir erwähnen. Oder wenn genau die auffällig gepunktete gelbe Krawatte, die man eben noch am Oberbürgermeister von Köln gesehen hat, zwei Stunden später am Hals des Hauptdarstellers eines indischen Films auftaucht.

Dass bei einem von Partys und Buffets nicht gerade brodelnden Filmfest wie Venedig ein französischer Wettbewerbsbeitrag von drei deutschen Empfängen gefeiert wird, wäre auch so ein typisch morphogenetisches Festivalfeld. Dabei ist Benoît Jacquots „Tosca“-Verfilmung sogar noch unspannender als die Opernübertragungen, in die man hin und wieder beim Zappen auf 3sat stolpert. Immerhin konnte sich Maria Callas in die Rolle der Sängerin, die sich für ihren Geliebten opfert, so schrankenlos hineinsteigern, dass sie ihren Widerpart Tito Gobbi bei einer hochdramatischen Szene in der Mailänder Scala einmal in Brand setzte.

Wahrscheinlich gibt es für Oper im Film letztlich nur die Alternative zwischen der hemmungslos überhöhten und der konsequent unterkühlten Form. Jacquot liegt unentschlossen irgendwo dazwischen und hat sich fürs Puccini-Pathos nichts weiter einfallen lassen, als bedeutsame Schwenks über den Marmorfußboden und gelegentliche Aufnahmen seiner Sänger im Tonstudio. Da in Venedig aber bereitwillig jedes Fitzelchen Film gefeiert wird, bei dem eine deutsche Mark drinsteckt, gibt es für „Tosca“ einen Empfang der Filmstiftung NRW, einen vom Kölner Oberbürgermeister und einen der Koproduzenten Arte und Telepiù.

Die Filmstiftung baute ihr Buffet standesgemäß im Palazzo Zanobio auf, einem Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts errichteten Gebäude, das die Stadt Venedig um 1850 ihren armenischen Zuwanderern übereignet hat. Dort hielt ein schmächtiger blasser Mann, der ein wenig aussah wie Charles Aznavour, in fast unverständlichem Englisch einen liebevollen, aber viel zu langen Vortrag über das wechselvolle Schicksal und die kulturellen Leistungen der armenischen Mönche in der venezianischen Geschichte. Ein morphogenetisch angehauchter Joachim Król, der zurzeit wieder als Donna Leones Kommissar Brunetti durch Venedig stapft, murmelte von hinten irgendwas von Armenia Bielefeld, und dann war es mit dem kulturhistorischen Ernst irgendwie vorbei.

Am Buffet unterlief meiner Bezugsgruppe wieder der alte Anfängerfehler: Kaum hatten wir uns bis zum Anschlag mit frittierten Tintenfischchen und anderen kleinen Schweinereien voll gestopft, wurde in den tiepoloartig ausgemalten Spiegelsaal zu den Hauptgängen gebeten. Bewegungsunfähig, pappsatt und kurz vorm Platzen – so fügt sich ein Abend zur idealen Rezeptionshaltung für das große Fressen auf der Leinwand.

In „Monsoon Wedding“ schaut die indische Regisseurin Mira Nair einer Großfamilie zwei Stunden lang beim Essen, Trinken, Singen und Heiraten zu. Es geht um eine Braut, die nicht ganz ohne Vergangenheit ist, um Männer- und Frauenwelten zwischen Houston und Delhi, hysterische Mamas, gemeine Zweckbündnisse und die große Liebe. Sogar der soziale Druck und die immensen Kosten der einwöchigen Orgie werden angesprochen, und ein bisschen Porno und sexueller Missbrauch liegen ganz im morphogenetischen Festivaltrend.

Bollywood und Sozialdrama, verstohlene Blicke und erotische Wolkenbrüche. Einmal diskutiert ein Frauenkränzchen in „Monsoon Wedding“ zusammen mit schüchternen jungen Männern über Zungenkusstechniken. Eine mittelalte Dame im Sari bringt die Sache mit großartiger Coolness auf den Punkt: „Just go with the flow!“

KATJA NICODEMUS