Schlimmer ist immer

Kein Land in Sicht im Gesellschaftsspiel: Angelika Klüssendorf beobachtet heillose Figuren beim Abhandenkommen von Heimat und Orientierung – „Alle leben so“

Ob nun alle so leben wie die Protagonisten in Angelika Klüßendorfs neuem Roman „Alle leben so“, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall aber lügen sich alle, die so leben, die Hucke voll. Sie wissen das nicht, aber sie tun es – hieß es einmal an einer Stelle im „Kapital“, wo Karl Marx den verzwirbelten Fetischcharakter der Ware zu erklären versucht hat. Dem ungarischen Philosophen Georg Lukács diente dieses Motto später sogar als Vorsatz für seine voluminöse Ästhetik. Ja, immer noch, nein, immer wieder steckt der Teufel genau dort, wo wir ihn zwar alle vermuten, aber noch nie wirklich getroffen haben: im Begehren. Genau davon, scheint mir, erzählt Angelika Klüßendorfs Text, den die Autorin einen Roman nennt, der aber – mit besseren Gründen – als Erzählreigen zu bezeichnen wäre. In einer Folge von Einzelerzählungen skizziert er verschiedene Episoden aus dem Leben einiger Menschen – unter anderen eines Gerichtsvollziehers, eines erfolglosen Schriftstellers und eines Heiratsschwindlers –, die einmal kurz aus der Hefe des Alltags und ihrer grauen Tristesse auftauchen, um dann ganz darin unterzutauchen oder sogar umzukommen. Doch darum schert sich dann eh keiner mehr . . .

Angelika Klüßendorf erzählt mit Bravour und in gleich bleibend unaufgeregter Manier (bei wechselnder Erzählperspektive und Figurenrede) um eine Leerstelle herum, nämlich um den unterschiedlich beschaffenen wie besetzten Verlust aller Protagonisten beim Abhandenkommen dessen, was womöglich einmal Heimat, Bindung, Orientierung und Richtschnur gewesen sein mag. Sie sind alle Verlierer im großen Gesellschaftsspiel, samt dem der Liebe und der Beziehungen; trostlos sieht es nicht nur in den eignen vier Wänden aus, die der Gerichtsvollzieher – selbst eine heillose Figur – zu sehen bekommt, sondern noch tiefer drinnen, dort, wo die Protagonisten eingesargt haben, was nie an die Oberfläche kommen darf: ihre tiefsten Verletzungen. Sie haben die Karte des schwarzen Peters gezogen im Gesellschaftsspiel, das sich – soziologisch – dadurch definiert, dass in ihm mit Gesellschaft gespielt wird – sie wissen das nicht, aber sie tun es. Sie handeln rollen- und spielkartengemäß. Derber formuliert: Sie haben die Arschkarte gezogen. Sie können tun und lassen, was sie wollen, es läuft immer auf dasselbe hinaus: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, geschieht es.

Ob es sich um den alternden Beau und Heiratsschwindler (mit Sprit fressendem roten Ford Mustang) handelt, der nach zahllosen betrogenen Frauen selbst die Liebe seines Lebens zu einer ihn ruinierenden Professionsgenossin findet; oder aber um den erfolglosen Schriftsteller, der – sich seinerseits nach der Liebe verzehrend – zwangsläufig immer auf die falschen Frauen hereinfällt; oder schließlich um die Figur des Gerichtsvollziehers, der auf eine ältliche frustrierte amerikanische Ehefrau stößt, die sich – daueralkoholisiert – auf dessen Avancen einlässt und von der sich dann herausstellt, dass nichts so gewesen ist, wie es geschienen hat, von wegen Ehemann und so weiter . . . Alles ist nämlich noch viel schlimmer!

„Die Zeit ist heute mit Klebstoff festgebunden“, sagt einmal eine Figur – irgendeine in diesem Spiel. Aber heute ist eben jeder Tag, immer und überall. „Mit Anfang Vierzig befand man sich irgendwo in der Mitte von zwei Ufern; das eine Ufer war der Sandstrand, wo die Jungen umhertollten, die noch nicht realisiert hatten, daß es ein zweites Ufer gab. Auf dem anderen saßen die Alten auf ihren Hochsitzen und schauten wehmütig hinüber. Der einzige Trost, den die Alten fanden, war der Gedanke, daß auf ihrem Sitz, wenn sie einmal tot waren, die Jungen sitzen würden.“ Zwei Ufer – aber kein Land in Sicht! WERNER JUNG

Angelika Klüßendorf: „Alle leben so“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001, 192 Seiten, 36,97 DM