Im Universum starker Frauen

Den Weg weitergehen, den eine andere gegangen ist: Jayne Anne Phillips beschreibt den Tod einer Mutter und das erste Jahr eines Kindes in matriarchalischer Perspektive – der Roman „MutterKind“

von KATHARINA GRANZIN

Ein Jahr Leben. Das kann wenig scheinen für einen erwachsenen Menschen. Für ein neugeborenes Kind aber ist es viel. Und vielleicht noch mehr für einen Menschen, der gegen die Zeit kämpft. Ein ganzes Jahr Leben, dem Tod abgetrotzt.

Anfang und Ende, Geburt und Tod sind die Pole, zwischen denen Jayne Anne Phillips in ihrem Roman „MutterKind“ die Fäden ihrer Erzählung spannt. Kate ist Anfang dreißig, als sie schwanger wird. Bisher zufrieden als Single mit wechselnden Beziehungen, beruflich erfolgreich und viel auf Reisen, ändert sie radikal ihr Leben. Zusammen mit dem Vater des Kindes, in Scheidung lebender Vater von bereits zwei Jungen, kauft sie ein Haus in einer „guten“ Gegend. Sie nimmt ihre unheilbar an Krebs erkrankte Mutter zu sich. Sie bekommt ihr Kind. Ein Jahr später stirbt die Mutter. Da kann Kates Sohn schon sieben Schritte laufen.

In dem einen erzählten Jahr durchlebt Kate mehrere Grenzsituationen auf einmal. Geburt und erstes Heranwachsen ihres Kindes, Lebensneige und Tod der Mutter – und gleichzeitig die komplette Neudefinition ihrer selbst. Auf einmal wird sie in ihrem Dasein bestimmt durch ein komplexes Geflecht familiärer Beziehungen, wird Mutter, Ehefrau, Stiefmutter und, je mehr die Krankheit ihrer Mutter vom Leben nimmt, auch in dieser Beziehung zunehmend vom Kind zur Versorgerin.

Was – und wie – Phillips erzählt, ist zugleich so einfach und so groß. Wer von diesem Roman klassisches Storytelling erwartet, den muss „MutterKind“ unweigerlich enttäuschen. Es gibt keinen Plot, keine sorgfältig vorbereiteten Spannungsbögen, keine überraschenden Wendungen. Was es gibt, ist: Lebendiges in vielen Schattierungen. Menschen, die aus dem täglichen Miteinander das Beste zu machen versuchen. Menschen, die zusammen Feste feiern. Und vor allem reden, reden, reden. Der Dialog ist eines von Phillips’ bevorzugten Stilmitteln, denn er ermöglicht die implizite Charakterisierung der Figuren und ihrer Beziehungen untereinander und vermeidet jegliche auktoriale Geste. In den Gesprächen zwischen Kate und ihrer Mutter Katherine, die häufig die gemeinsame Vergangenheit evozieren, zeichnet die Autorin das Bild einer außergewöhnlich innigen Mutter-Tochter-Beziehung, einer Frauenfreundschaft, die, bei aller Verschiedenheit der Wertmaßstäbe und allem sich daraus ergebenden Konfliktpotenzial, ein enges Band zwischen den Generationen knüpft. Die Last der Verantwortung und die Leere des Verlustes wird für Kate letztlich weniger schmerzlich durch die Erkenntnis, dass sie das Leben der Mutter auf eigene Weise fortsetzt, einen Weg weitergeht, den auch jene gegangen ist. Denn sie sind beide von derselben Art: Motherkind.

Der Originaltitel „MotherKind“ (in etwa „Mutterheit“, Analogbildung zu mankind) ist unübersetzbar. Der deutsche Titel „MutterKind“, auf seine Art treffend, verweist auf die Vielschichtigkeit von Kates sozialer Situation, um die Phillips’ Erzählen kreist. Doch die Hauptsache trifft der englische Titel genauer: die unverblümt matriarchalische Perspektive des Romans. Auch in den weiblichen Nebenfiguren wird das Mutterthema in zahlreichen Variationen durchgespielt. Die Rolle der männlichen Personen – und das ist tatsächlich eine Schwäche – in diesem Universum starker Frauen bleibt dagegen unklar. Sie verblassen zu bloßen Schemen. Ganz besonders gilt das merkwürdigerweise für den doch wichtigsten Mann in Kates Leben, den Vater ihres Kindes und Lebensgefährten/Ehemann. Er ist eine Leerstelle in der Erzählung, eine Figur ohne beschreibbare Persönlichkeit.

Möglich, dass die Autorin, die in diesem Roman viel privates Erleben verarbeitet hat – in erster Linie den Tod ihrer eigenen Mutter –, den Mann in ihrem Leben ausklammern wollte aus der Öffentlichkeit des Romans. Das wäre verständlich; dem Roman allerdings bekommt es nicht. Denn durch die so streng personale – um nicht zu sagen persönliche – Erzählhaltung, die die Leserin die Welt ganz durch Kates Augen sehen lässt, fällt die seltsame Gesichtslosigkeit der männlichen Hauptfigur besonders auf.

Doch das mag ungerechte Krittelei sein angesichts der Sensibilität und unlarmoyanten Beherrschtheit, mit der Phillips an ihren komplexen Stoff herangeht. Ihre präzise, knappe Sprache erlaubt es, sich dem Thema Tod und Sterben weiter anzunähern, als es sonst in der Literatur erträglich ist. Ihre Prosa atmet eine seltene Klarheit. Leider lässt sich von der deutschen Übersetzung nicht dasselbe sagen. Die geschliffene Präzision des Originals bekommt in der Übertragung einen spürbaren Stich ins Papierene. Dass ab und zu die Syntax oder gar einzelne idiomatische Wendungen der Originalsprache durchscheinen, ist regelrecht ärgerlich.

Jayne Anne Phillips: „MutterKind“. Aus dem Amerikanischen von Isabella König. Berlin Verlag, Berlin 2001, 429 Seiten, 39,80 DM