Net-Sklaven aller Länder, vereinigt euch!

Die Welt ist nicht genug (6): Nach Seattle und Genua muss sich nun auch die kollektive globale Intelligenz in einer neuen Form selbst organisieren

■ Seattle, Tokio, Göteborg und Genua – die Weltordnung der „New Economy“ wird nicht länger als Chefsache akzeptiert. Mit der Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeit wächst auch der Widerstand. Wie aber sehen die Kritiker der Globalisierung aus? Was treibt sie an? Und welche Kultur entsteht aus dem neuen Protest?

von FRANCO BERARDI

20 Jahre lang erschien der neoliberale Konformismus unangreifbar. Als echte Form des kulturellen Terrorismus ließ er weder ethische noch politische Alternativen zu. Wer nicht die Überlegenheit des Profitgesetzes akzeptierte, wurde als Relikt der Vergangenheit betrachtet. Dann kam es zur Revolte von Seattle, Signal der Auflösung dieses Konformismus. Mit einem Mal war die Diktatur der Ökonomie über jede diskursive, imaginäre und existenzielle Dimension in Frage gestellt.

Krise der New Economy

Wie aber ist dieser Bruch herangereift, und welche gesellschaftliche Dynamik hat ihn ermöglicht? Um die Genese der in Seattle zu Tage getretenen globalen Bewegung zu verstehen, müssen wir die gesellschaftliche Zusammensetzung der neuen vernetzten Arbeit analysieren; die Herausbildung und die Krise der globalen Wissensarbeit. Erst als der Produktionprozess und die Ideologie der New Economy in die Krise geriet, verwandelte sich die vernetzte Wissensarbeit in eine Bewegung der Selbstorganisation und der Revolte.

Die neue Dynamik wurde erst vor zwei Jahren manifest: Die Geschwindigkeit, mit der die Bewegung politisch expandierte, war fulminant, doch ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion ist nicht in gleichem Maße vorangeschritten, und noch immer verfügen wir nicht über einen begrifflichen Rahmen, der geeignet wäre, ihre gesellschaftliche Architektur sowie die strategischen Horizonte offenzulegen. Das Aufkommen der Bewegung lässt sich nicht mit den Kriterien der Dialektik und des Sozialismus des 20. Jahrhunderts interpretieren; sie wird weder durch die politischen Formen der Revolution noch durch die des Reformismus politisch Ausdruck finden können.

Ab Seattle haben wir zwei aktuellen Phänomenen beigewohnt: Die Semio-Ökonomie (auch New Economy genannt) ist in eine Krise geraten, die nicht nur finanzieller, sondern auch struktureller Natur ist. Die Krise der Semio-Ökonomie entsteht aus dem Widerspruch zwischen dem Ausstoß der semiotischen Produktion, die unter den Bedingungen der digitalen und vernetzten Technologie unbegrenzt ist, und dem mentalen Markt, das heißt, der gesellschaftlich verfügbaren Aufmerksamkeit.

Aufmerksamkeitsverlust

Diese Aufmerksamkeit ist notwendigerweise aufgrund der Zeit beschränkt, über die das organisch begrenzte Hirn einer begrenzten gesellschaftlichen Masse mentaler Konsumenten verfügt. Was Marx Überproduktionskrise nannte, manifestiert sich heute als Gefälle zwischen Cyberspace und Cyber-Zeit, zwischen unbegrenzter semiotischer Produktion und einem schnell erschöpften Aufmerksamkeits-Markt. Die Krise der New Economy wurzelt in diesem Widerspruch, und sie findet keine Lösung innerhalb der Grenzen der neoliberalen Gesellschaft.

Als sich nun die Krise der Semio-Ökonomie in der Vorstellungswelt der Jugendlichen, vor allem aber in der Vorstellungswelt des Hightech-Proletariats, der virtuellen Klasse der kognitiven Netz-Arbeiter, manifestierte, kam es zu einer Ablehnung gegenüber der Reduktion der individuellen Existenz ausschließlich auf das Geschäft: eine Ablehnung, die weniger politischer als existenzieller Natur ist.

In den 90er-Jahren funktionierte die New Economy als Versprechen von Glück, Erfolg und schneller Bereicherung. Eine Richtung der Cyber-Kultur (vertreten durch das Wired-Magazin) hat auf diesem Versprechen eine zynische Utopie von großer Faszinationskraft konstruiert. Doch tatsächlich wurden Intelligenz, Kreativität, Kommunikation der Profitmaximierung unterworfen. Das Glücksversprechen bekam Risse. Der Einbruch des Nasdaq war das Wecksignal: Die Illusion von der Glückseligkeit löste sich auf. Jene, die sich als Unternehmer ihrer selbst proklamiert hatten, entdeckten sich als Sklaven von technischen, finanziellen und institutionellen Automatismen, die ihre gesamte Zeit, ihr gesamtes Leben und ihre gesamte bewusste Aktivität absorbierten.

Die kognitiven Arbeiter entdeckten außerdem mit einem Schlag, dass ihre Löhne kaum ausreichten, um dem Wettbewerbsstress standzuhalten, sie entdeckten die existenzielle wie die sexuelle Misere eines Lebens als Net-Sklaven. In dieser kulturellen Krise wurde eine enorme Menge intelligenter Zeit freigesetzt. In dem Maße, wie sich die Illusion auflöste, begannen immer mehr Wissensproletarier, ihre Kompetenzen in einen Prozess kreativer Solidarität zu investieren. Daraus entstand die globale Bewegung. Auf dieser Ebene fand die globale Bewegung auch ihre Strategie. Und unter diesen Bedingungen bereitete sich die Explosion von Genua vor.

Horror in Genua

Genua war der Schlusspunkt des Startzyklus der globalen Bewegung. Außerhalb der Roten Zone, in der sich die G 8 eingeschlossen hatten, demonstrierten hunderttausende Personen: Es handelte sich nicht nur um Aktivisten der Linken des 20. Jahrhunderts, sondern auch um Videofilmer, um Wissensarbeiter, um Leute, die im sozialen Bereich arbeiten, und um eine enorme Zahl von Menschen, die sich ehrenamtlich sozial engagieren, in religiösen wie auch in nichtreligiösen Kontexten. Die Polizei schlug überall zu, sie verprügelte kniende Personen, sie verhaftete, sie verletzte, sie tötete, und am Ende attackierte sie die Journalisten von Indymedia, die im Schlaf in einer Schule überrascht wurden.

Überall sind die Menschen mit Bürgersinn entsetzt über das, was in Italien, wo die Mafia an der Regierung ist, geschieht. Dieses Land hat eine Neigung zum autoritären Konformismus, wie es sich schon mehrfach im vergangenen Jahrhundert gezeigt hat. Die nationale Identität Italiens ist schwach gegenüber dem Reichtum an kulturellen Unterschieden, und das produziert auf der einen Seite den amoralischen Familiarismus der Mafia als tribalen und kriminellen Ersatz für die staatliche Autorität. Auf der anderen Seite produziert es die aggressive Bekräftigung der Staatlichkeit, die sich im Faschismus organisiert. Heute sind erstmals Mafia und Faschismus (Berlusconi und Fini) miteinander verbündet, im Verein mit dem populistischen Rassismus der Lega Nord und dem katholischen Integralismus. Diese Summe von Unkulturen bringt unvorstellbare Monstrositäten hervor und wird sie weiter hervorbringen. Doch das Problem ist nicht nur italienisch. Das globale Kapital ist in eine Krise getreten, deren Lösung niemand sich vorzustellen weiß. Das italienische Fieber ist bloß ein Anzeichen dieser verrückten Entwicklung.

Die Bewegung muss also Perspektiven entwickeln, die absolut innovativ sind gegenüber den Erfahrungen der revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Zurzeit ist das theoretische und strategische Bewusstsein nicht auf der Höhe der produktiven Möglichkeiten der Bewegung und des Reichtums ihrer gesellschaftlichen Zusammensetzung.

Die globale Bewegung

Schon die Definition No-global, die Gruppen wie Attac mit dem ökologischen Lokalismus und mit sozial Engagierten aus religiösen Gruppen eint, ist ungenau und in der Substanz reaktionär. Diese Bewegung ist aus Berufung global, in ihrer Zusammensetzung wie in ihrer Kultur. Der Antiglobalismus ist der nationaler politischer Herrschaft gegenüber den globalen Firmen. Mit der Wahl einer Perspektive, die auf die Restaurierung der nationalen Souveränität zielt, verurteilt man die Bewegung zu einer sicheren Niederlage; man reduziert sie auf die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der der Staat eine wirksame politische Maschine war und die nationalen Grenzen eine Territorialisierung der Demokratie ermöglichten. Heute aber ist der Nationalstaat einem entterritorialisierenden Druck ausgesetzt, der nicht mit den Methoden moderner staatlicher Politik zu beherrschen ist. Die neue Dimension der Demokratie findet sich nicht innerhalb der Grenzen nationaler Souveränität, sie muss auf der höheren, komplexeren Ebene gesucht werden, der Ebene des globalen Netzes.

Die gesellschaftliche Zusammensetzung der vernetzten Wissensarbeit bringt eine neue Perspektive der Selbstorganisation der kollektiven Intelligenz hervor und der Autonomie des Wissens von Profitgesetz und privatem Eigentum. Das Profitgesetz begrenzt die produktiven Potenziale der kollektiven Intelligenz, doch in der Praxis des open source ist schon eine Alternative zum Profitgesetz eingeschlossen. Diese Alternative muss zur bewussten Strategie der globalen Bewegung werden.

Nach Genua muss die Bewegung aus der sich immer wiederholenden Spirale der nur reaktiven antiglobalistischen Demonstrationen heraustreten; die Selbstorganisation der kognitiven Arbeit muss ihr Programm werden: Die Wissenschaftler, die Forscher, die Kommunikationsarbeiter, ja auch die Funktionäre der electronic governance sind die sozialen und produktiven Handlungsträger dieser Perspektive der Selbstorganisation der gesellschaftlichen Intelligenz. Sie können die Funktionsweise der techno-sozialen Interfaces umkehren und sie können einer sozial orientierten technologischen Architektur Form geben. Sie können die Macht des Semio-Kapitals aushöhlen und die Projekte der Global players sabotieren, die die Semio-Sphäre beherrschen. Sie können das Wissen vergesellschaften, indem sie Patente sabotieren und Forschungsresultate öffentlich machen.

Die Wissensarbeiter haben schon begonnen, sich in dieser Richtung zu bewegen. Tausende Forscher verschiedener Nationen haben die Forderung vorgebracht, dass die Resultate aller wissenschaftlicher Forschungsprojekte im Internet veröffentlicht werden. Erfahrungen mit open source auf dem Feld der Informatik dehnen sich aus. Und im Mediensystem bilden sich Situationen wie Indymedia heraus, vom ökonomischen System unabhängige Informationsnetze. Von Seattle bis Genua hat die Bewegung als Kraft der Veränderung der planetaren Vorstellungswelt, des ethischen Bewusstseins sowie des politischen Feldes gewirkt. Diese Mission ist jetzt vollendet. Die Mächtigen der Erde sind auf der Flucht, sie verschanzen sich in den Bergen Kanadas oder den Wüsten Katars. Heute muss die Bewegung zur politischen Kraft für die Selbstorganisation des gesellschaftlichen Erkenntnisprozesses werden, zu einer politischen Kraft, die die Autonomie der kollektiven Intelligenz gegenüber den Regeln des Semio-Kapitals möglich macht.

Übersetzung: Michael Braun