Im Hauptquartier der Lügen

Blut und Blumen: Terence Davies hat Edith Whartons Emanzipationsdrama „Haus Bellomonont“ mitGillian „X-Files“ Anderson als scheiternder High-Society-Dame im New York des Fin de Siècle verfilmt

von PHILIPP BÜHLER

Edith Whartons Romane sind Geschichten vieler Häuser und der Frauen, die darin lebten. „The House of Mirth“ (deutsch: „Haus Bellomont“) macht da keine Ausnahme. Aber es ist die Geschichte einer Außenseiterin: Lily Bart hat kein Haus. Sie hat keinen Mann. Und darum auch keinen Platz in der Gesellschaft, nach der sie sich sehnt, weil sie keine andere kennt: die New Yorker High Society der letzten Jahrhundertwende. Edith Wharton war eine privilegierte Tochter dieser Klasse – und das genaue Gegenteil von Lily Bart. Sie wollte raus aus dem Haus, weg von den Moralhütern und Raffzähnen, die sie in ihren Büchern analysierte, und karikierte mit einer Schärfe, die ihresgleichen suchte. Doch als sie „The House of Mirth“ schrieb, schien ihre Zukunft längst besiegelt. An der Seite eines todlangweiligen Ehemanns galt es, Empfänge zu geben, die Angestellten zu kontrollieren und die Freunde des guten Hauses Wharton bei Laune zu halten.

Auch in Whartons Leben muss es ein Haus Bellomont gegeben haben, wie sie es hier beschrieb: das hauptquartierartige Zentrum einer abgehobenen Patrizierkaste, wo die Frauen ihren Plausch pflegten, derweil die Männer Geschäftliches besprachen. So war das im Big Apple anno 1905: Der eine Teil der Gesellschaft machte mobil, mit der Eisenbahn oder im Aktienhandel – für den anderen blieb das Haus Gefängnis von Körper und Seele.

Nun hat Terence Davies dieses Buch verfilmt, ohne jede Selbstgefälligkeit, mit angebrachtem Respekt vor einem Meisterwerk zeitgenössischer Gesellschaftsanalyse. Beinahe schafft er sogar den Spagat, der den Text ausmacht: immer zwischen luftiger Heiterkeit und abgründigem Schmerz. Denn eine spritzige Satire ist „The House of Mirth“ nur auf der Textebene, in den Dialogen, im inneren Monolog seiner Heldin. Im Raum zwischen den Zeilen, den Davies mit kontemplativen Bildern ausleuchtet, steht eine amerikanische Tragödie. Hier sieht man den unaufhaltsamen Abstieg einer Lebedame, an der das Leben vorbeirauscht wie eine Dampflok. Lily Bart glaubte den Fahrplan zu kennen. Sie hat sich getäuscht.

Gleich zu Beginn wird Lily kalt erwischt. Als charmante Gesellschafterin eigentlich Stammgast im vornehmen Bellomont, trifft man sie nun in einer stadtbekannten Junggesellenabsteige. Denn in Bellomont, jenem schon in der Bibel gegeißelten „Haus der Freude“, hat sie Entscheidendes versäumt. Statt sich zeitig einen Mann zu angeln, hat sie geraucht, getanzt, munter Bridge gespielt und dabei einen Berg von Schulden angehäuft. Nun steht sie vor dem wirtschaftlichem Ruin und noch schlimmer vor dem Verlust ihres guten Rufs. Ein Mann muss her.

Dass das jeder weiß, ihre falschen Freunde vorneweg, ist Lilys Problem. Denn das Heiratskarussell dreht sich längst nach den Gesetzen des Kapitalmarktes. Der Wert der 29-Jährigen sinkt mit jeder neuen Geldanlage, mit jedem Versuch, den entschlussschwachen Junggesellen Lawrence Selden (Eric Stoltz) doch noch für sich zu begeistern. Oder irgendeinen anderen. So kreist der Film wie ein Mahlstrom um Lily Bart, zeigt, wie sich die Gesichter der anderen verhärten, von mitleidiger Verwunderung zu schierer Verachtung. Bis nur noch Lily lächelt, eloquent wie eh und je, aber zunehmend verzweifelt. Was bleibt ihr übrig?

Man mag es kaum glauben, aber Gillian Anderson, bekannt aus „Akte X“, ist die perfekte Verkörperung dieser Figur. Hübsch anzusehen, aber immer eine Spur zu blass; eine Meisterin erotischer Konversation, aber neben wahren Kinohelden wie Dan Aykroyd und Laura Linney wiederum dezent im Abseits stehend.

Die Bilder, in die Davies sie steckt, gleichen den zeitgenössischen Gemälden von John Singer Sargent. Wie sich das für eine Literaturverfilmung gehört. Aber trotz der unvermeidlichen Kutschfahrten, ausladenden Hüte, Blumengebinde, schweren Vorhänge, Lüster und Kanapees – Whartons Erstling hieß „The Decoration of Houses“ – sind sie nie Selbstzweck. Sondern stille Monumente der Verlorenheit, des emotionalen Stillstands, der Melancholie. Mal sehr bewusst eingesetzt als Akttrenner, dann wieder ironisch gebrochen: In einer so kurzen wie lächerlichen Einstellung posiert Lily als Watteaus „Sommer“ und macht ihre eigene Einsamkeit zum beklatschten Vergnügen Bellomonts. So kann Davies auf Megastars verzichten oder auf den Einsatz von voice over, mit dem sonst so oft literarische Originaltexte in der Filmfassung nacherzählt werden. Und man fragt sich, was sich Martin Scorsese bei seiner unsäglichen Wharton-Adaption von „Zeit der Unschuld“ eigentlich gedacht hat.

Vielleicht muss man Brite sein, wie Davies die Bücher von Jane Austen gelesen haben, um Whartons Anklage eines absurden Viktorianerdünkels à l’américaine noch heute zu verstehen. Dass der Schein trügt, dass es bei alldem um nichts geht als um Apanagen, Erbteile und krumme Geschäfte, weiß hier jeder, sogar Lily. Vielleicht muss man auch in Glasgow drehen, um die Schattenseiten der Belle Époque wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber wenn Lily schließlich herniedersinkt und sich Blumen mit Blut vermischen in einem Bild, wie es so noch niemand gesehen hat, dann sollte man auch eines wissen: Bei Edith Wharton war das mal komischer. Für sie war Lilys Ende Befreiung. Sie ging nach Paris, ließ sich scheiden und hatte eine Affäre. Es ging ihr danach sehr viel besser.

„Haus Bellomont – die verborgene Leidenschaft der Lily Bart“. Regie und Buch: Terence Davies. Darsteller: Gillian Anderson. Eric Stoltz, Dan Aykroyd, Laura Linney, Elizabeth McGovern u. a. Großbritannien 2000, 135 Minuten.