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: Die Logik der Eskalation

Blinde Nato-Solidarität führt in eine Spirale der Gewalt

Zum ersten Mal seit dem 11. September gibt es Grund, auch in der Bundesrepublik beunruhigt zu sein. Deutschland hat den ersten Schritt in Richtung Krieg getan – und die Regierung hat es vor ihren Bürgern gut verborgen. Noch am Mittwochnachmittag bestritt Kanzleramtsminister Steinmeier, dass Gerhard Schröder mit seinem Satz von der „Kriegserklärung“ den Bündnisfall gemeint habe. Nur Stunden später – und ohne eine Veränderung der Lage – gaben Schröder und sein verkleinertes Sicherheitskabinett der Nato ihr O.K. Zu diesem Zeitpunkt wusste praktisch niemand in Deutschland auch nur von der Absicht des Nato-Rats, den Bündnisfall zu erklären. Selbst die Parteien hat der Kanzler erst nachträglich informiert – die Öffentlichkeit noch später. Das Vertrauen der rot-grünen Koalition in die freie Gesellschaft, die sie beschwört und vertritt, war offenbar nicht sehr groß.

Dabei hätte ein Minimum an öffentlicher Erörterung Not getan. Wenn die Bundesregierung den Angriff auf Amerika zu einem Angriff gegen die Nato erklärt, so erliegt sie nicht einer Zwangsläufigkeit, sondern trifft eine politische Entscheidung. Rot-Grün lässt sich ein auf die Logik der Eskalation. Nicht weil ein Vergeltungsschlag wahrscheinlicher wird – schon vorher war klar, dass sich die USA davon kaum abbringen lassen würden. Doch je mehr Länder sich an einer Vergeltungsaktion beteiligen, desto größer wird die Gefahr, dass sie umso heftiger ausfällt. Was wiederum eine drastische Reaktion der Terroristen und ihrer Unterstützer provozieren könnte. Es wäre Unsinn zu behaupten, die Schröder-Regierung strebe die Eskalation an. Womöglich beabsichtigt dies nicht einmal der US-Präsident. Auch ihm wäre eine schnelle und kurze Operation wahrscheinlich am liebsten. Die Gefahr besteht in einem Rutschbahneffekt: Die Politik kann den Folgen ihrer eigenen Rhetorik nicht mehr ausweichen.

Zwar ist die Öffentlichkeit von der Verhängung des Bündnisfalls ausgeschlossen worden, doch die nächste Stufe der Eskalation ist noch nicht entschieden. Es gibt also noch eine Chance auf Mitsprache für die offene Gesellschaft. Weder ein Einzelner noch die taz oder die deutsche Öffentlichkeit werden einen Militärschlag verhindern können. Worauf sie versuchen können Einfluss zu nehmen ist, wie heftig die Vergeltung ausfällt. Die Wucht einer Operation hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil davon ab, welche Position die Bundesregierung in der EU und der Nato künftig bezieht. Dies hängt stärker, als manche meinen, von der Stimmung in Deutschland ab. Fatal ist daher, wenn die Politik die Meinungsbildung der Bürger verhindert, ob beabsichtigt oder nicht, indem Deutschland auf einen Solidaritätskurs eingeschworen wird, der kein Nachdenken mehr kennt. Die Skepsis gegenüber einem Nato-Einsatz ist nicht zwangsläufig egoistisch. Falls die Deutschen sich für Zurückhaltung entscheiden, dann nicht um Amerika allein zu lassen. In einer Welt in Spannung kann ein Mehr an Feuerkraft ein weniger an Sicherheit bringen.

PATRIK SCHWARZ