Die Stunde der Patrioten

Auf Schock und Trauer folgt Nationalstolz: Amerika sammelt sich hinter seiner Flagge, und niemand will abseits stehen

aus New York NICOLA LIEBERT

Zunächst dominierte die Menschlichkeit. Die ersten zwei Tage nach den Angriffen auf Pentagon und World Trade Center – sie waren nicht nur vom Schock über den Terror gezeichnet, sie gehörten der Sorge um Angehörige und Freunde. Zugleich ergriff eine unbeschreibliche Welle der Hilfsbereitschaft die gesamte Bevölkerung. Kein Wort des Hasses war zu hören, keine Übergriffe auf muslimische Mitbürger, keine Plünderungen. Dann erst setzte die Phase der Trauer ein, Trauer um die Opfer, Trauer auch um die Stadt. Improvisierte Gedenkstätten, Gottesdienste, Mahnwachen allerorten. Und dann schlug die Stimmung um.

Es begann mit jubelnden Menschen, die – eine Art Volksfeststimmung verbreitend – die Straßen säumten, auf denen die Räumtrupps und Feuerwehrleute zum „Ground Zero“ vordrangen, dem Schutthaufen, wo das World Trade Center gestanden hatte. Zunächst hielten sie nur Pappschilder hoch. „Helden“ stand darauf, „Wir lieben euch“ und „God bless America“. Binnen Stunden tauchten amerikanische Fahnen auf, kleine Wimpeln, große Banner. Und plötzlich hingen sie überall. „Stars and Stripes“ an den Fenstern der Stadt, Autos mit Wimpeln geschmückt wie ansonsten nur Staatskarossen, auf den Straßen Menschen mit Fahnen oder Buttons, T-Shirts oder Stirnbändern mit der US-Flagge darauf. Fahnenverkäufer, deren Geschäft in den USA traditionell ohnehin gut läuft, sind ausverkauft. „Ich bin stolz auf mein Land, das solche Leute hervorbringt; man muss doch nur sehen, was jetzt an der Katastrophenstelle passiert, um tiefen Stolz zu empfinden“, sagt einer der Fahnenträger.

Dem Nachrichtensprecher des Senders NBC stiegen Tränen der Rührung in den Augen, als die Bilder der Feuerwehrleute eingeblendet wurden, die eine riesige US-Fahne an der Fassade des teilweise zerstörten Pentagon befestigten. Das Gefühl von Zusammengehörigkeit, ja geradezu Kameraderie unter Fremden, ist beinahe wie eine Droge, die inmitten all des Horrors so etwas wie euphorische Gefühle auszulösen vermag.

In den USA, wo sich Generationen von Immigranten aus aller Welt mischen, wo sich diverse ethnische Gruppen als „African American“, „Irish American“ oder „Chinese American“ definieren und oftmals voneinander abgrenzen, gibt es in Notzeiten ein starkes Bedürfnis, sich zu einer gemeinsamen Identität zu bekennen. Wenn jemand amerikanische Werte angreift, dann setzt automatisch die Trotzreaktion ein, sich genau hinter diese Werte – wiederum vertreten durch das Symbol der Flagge – und hinter die Regierung zu stellen. „Wir müssen uns jetzt alle hinter unserem Präsidenten sammeln“, sagt einer von denen, die den Räumtrupps zujubeln.

Im Internet und auf Diskussionsforen im Internet kursieren Rundbriefe. Die einen geben mit vorsichtigen Formulierungen zu bedenken, dass möglicherweise die Arroganz und Brutalität der amerikanischen Außenpolitik mit zu den Angriffen beigetragen haben könnten. Die anderen reagieren mit Entsetzen auf solcherlei kritische Anmerkungen. „Dies ist NICHT die Zeit für Kritik“, steht in einem Internetforum als Antwort auf einen regierungskritischen Text. „Es ist genau diese Selbstkritik, dieser Selbsthass, die dazu geführt haben, dass die USA für solche Angriffe verwundbar geworden sind“, ereifert sich ein Journalist. Jetzt gelte es, sich ohne jede Einschränkung hinter die Regierung zu stellen, Parteipolitik zu vergessen, und wer dies nicht tue oder anders sehe, „liebt sein Land nicht“.

Dass jedoch die Trennlinie zwischen Patriotismus und Nationalismus sehr schmal ist, zeigen die verbalen und zum Teil physischen Angriffe auf muslimische Amerikaner – die allerdings kaum aus New York, sondern eher aus dem Süden und Mittleren Westen der USA gemeldet werden. Einige Amerikaner und Medien stellen unverhohlenen Hass und den alttestamentarischen Wunsch nach Vergeltung zur Schau. „Tötet diese Bastarde“ fordert zum Beispiel die Boulevardzeitung New York Post. „Wir sind im christlichen Glauben erzogen worden, und wir haben gelernt, wir sollen nicht hassen“, schluchzte die Angehörige eines Vermissten in die Kamera. „Aber wie kann man diese Leute nicht hassen, die das getan haben und die das unterstützen?“ Sie fordert Militäraktionen gegen die Verantwortlichen – wer immer diese sein mögen. Eine aktuelle Umfrage zeigt eine überwältigende Mehrheit für militärische Vergeltungsschläge (siehe Kasten).

„Hört mir auf mit Gerechtigkeit – wir wollen Rache“, lautet die Überschrift über einem anderen Artikel in der New York Post, der die Stimmung im Lande beschreibt. Die Zeitung zitiert eine Großmutter aus Atlanta mit den Worten: „Ich hoffe, wir vernichten diese Leute und wenn nötig das ganze Land, das ihnen Unterschlupf gewährt.“ Rekrutierungsbüros der US Army verzeichnen einen erhöhten Andrang von Freiwilligen. „Zum ersten Mal kann ich mich mit all den Teenagern damals während des Zweiten Weltkriegs identifizieren, die sagten: ,Ja, verdammt, ich werde für mein Land kämpfen‘ “, erzählt ein Kellner, der nach eigenen Angaben mit dem Gedanken spielt, in die Armee einzutreten. „Zum ersten Mal fühle ich mich wirklich als Amerikaner.“