Schwarze Folkloristik

Kein Bruch im Weltbild? Obwohl seit dem Attentat auf das World Trade Center viel von „Zäsur“ gesprochen wird, entpuppt sich „America’s New War“ als Konstruktion aus Althergebrachtem

Fahndungsplakate der Toten werden zu physiognomischen Bausteinen des Bösen

von TOM HOLERT

Blitzschnell setzte sich die neue Konvention der Weltauslegung durch. Unmittelbar nach den Ereignissen vom 11. September schien eine unsichtbare Macht die Medienberichterstattung verpflichtet zu haben, immer wieder das radikal Inkommensurable der Situation zu beteuern, den monumentalen Bruch mit Bildern und Zeiten. Von historischer „Zäsur“ war immerfort die Rede, von der Präzedenzlosigkeit der Geschehnisse, von der neuen Qualität des Terrors, von „America’s New War“ (CNN). Das Einbohren der Flugzeuge ins World Trade Center und Pentagon und der Tod von tausenden mussten dafür herhalten, weltweit einen unvorhergesehenen Paradigmenwechsel zu begründen (auch und gerade, weil die Bilder so Hollywood-bekannt erschienen).

Ohne Umschweife wurden die Bilder des Attentats und seiner Folgen zum Treibmittel einer marktgerechten Logik der Innovation. Mit der Vernichtung von Menschen und Architektur ging unmittelbar die Vernichtung der Vergangenheit einher. Das „Präsentismusprinzip der Medienkommunikation“, von dem der Politikwissenschaftler Thomas Meyer spricht, feierte eine gigantische Party. Kein Davor wurde mehr geduldet, jetzt herrscht das Diktat des post festum. Nichts darf mehr sein, wie es war.

Die Fahnen-auf-halbmast-setzende, tränenreiche Entschlossenheit, mit der man in das Neue Zeitalter, die vita nova, das 21. Jahrhundert usw. einmarschiert, befördert einen steinalten, reaktionären Diskurs: über Ausnahmezustand, bedingungslose Unterstützung, verschärfte Sicherheitsvorkehrungen und islamistische Terrorbestien. Je mehr die Zäsur beschworen wird, desto archaischer fallen die „erforderlichen Maßnahmen“ aus; je mehr auf der Unwiederbringlichkeit einstmaliger Unverwundbarkeit insistiert wird, desto patriotischer tröten die Blaskapellen der freiwilligen Brigaden.

Die rhetorische Aufkündigung des Davor und die Behauptung völlig neuer Verhältnisse sind im Kern nichts anderes als Methoden zur Vermarktung von Depolitisierung. Das vermeintlich Unfassbare der Ereignisse wird zum Faustpfand für die Durchsetzung einer Konvention der totalen Gegenwärtigkeit. Sie ist darauf angelegt, alle Instrumente von Kritik und Debatte außer Kurs zu setzen. „Besonnenheit“ fordern regierende Knittergesichter ein. Was sie meinen, ist die Aussetzung von Zweifel und Oppositionalität.

Eine entscheidende Rolle bei der ruckartigen Einrichtung der Konvention der totalen Gegenwärtigkeit spielen einmal mehr die Fernsehbilder und Fotografien. Zu animierten Logos und Kennungen auf den vielteiligen Monitor-Layouts der Nachrichtensender verarbeitet, liefern sie Futter für die Evidenz des angeblich Inkommensurablen. Ihre ideologische Funktion besteht unter anderem darin, die Ereignisse aus der Geschichte herauszunehmen, ihnen symbolische Kompaktheit und phänomenale Gestalt zu geben.

Die permanenten Zeitlupenwiederholungen lassen die Ereignisse irgendwann in sich kreisen – selbstähnlich, selbstgenügsam. Das Grauen wird in das enthistorisierende Aspik der Bilder eingelegt, um von dort aus seine mobilisierende Wirkung zu entfalten.

Dabei spielt visuelle Aufklärung beständig hinein in erkennungsdienstliche Identifizierung mit Hilfe des Visuellen. Hat man einerseits die Ereignisse mit sich selbst identifiziert und so von anderen unterscheidbar gemacht, wird andererseits die Identifizierung der Verantwortlichen und Verdächtigen vorangetrieben. Selten hat man einen Mann häufiger aus seinem Zelt heraustreten und mit Gewehr vor Bücherwand posieren sehen wie Ussama Bin Laden in der tagelang hartnäckig rotierenden Schleife von Archivbildern. Die Blickschulung an den ZuschauerInnen zielte dabei auf ein physiognomisches Sehen: Einprägen sollten sich Merkmalskombinationen aus Gesichtszügen und Kleidungselementen. Jede(r) da draußen fahndet jetzt mit.

So mutiert die beharrlich gesendete schwarze Folkloristik der Fernsehbilder von Taliban-Kriegern und tanzenden Palästinenserkindern zu anthropologisch-forensischem Indizienmaterial. Mantragleich wird damit das Publikum auf den militärischen Vergeltungsschlag der USA und ihrer Verbündeten im Kampf gegen „den Terror“ eingestimmt. Mohamed Atta „ist Araber“ (Bild). Sein Bild prangt auf Seite 1. Das Porträt des potenziellen, individuellen Täters wird zum Fahndungsplakat – dabei ist der Gesuchte längst tot. Trotzdem wird es wie entfesselt verbreitet. Es verheißt massenhaften Zugriff auf die physiognomischen Bausteine des Bösen.

Damit entpuppt sich das Neue der „Zäsur“ als reine Behauptungsleistung, es ruht auf einer Konstruktion aus Althergebrachtem. Eine der (traurigen) verbliebenen Optionen besteht darin, dem Entsetzen mit originellen Analysen begegnen. Wie kann man der (Waren-)Logik des Neuen durch möglichst neuartige Gedanken entsprechen? (Eine Logik, in der ja auch der vorliegende Text befangen ist.) Soll man darauf hinweisen, dass das Arkadenornament, das in den Überresten der Fassade der Sockelzone des World Trade Centers noch zu erkennen ist, ausgesprochen „orientalisch“ anmutet – was ja eine herbe dialektische Pointe birgt? Die „Zäsur“ vom 11. September bringt auch die ExpertInnen der visuellen Kultur ins Schwitzen, wollen sie nicht lediglich Seminarwissen produzieren, welches die Bilder scheinbar spielend beherrscht, aber letztlich bloß dazu beiträgt, auf das Ästhetische der Geschehnisse scharfzustellen.

Anders gesagt: Jedes Bild ist strukturell depolitisierend. Noch im Bilderverbot, wie es die Behörden in New York und Washington über die Bergung der Leichen aus den kollabierten Gebäuden verhängt haben, zeigt sich, wie sehr Bilder (und ihre Abwesenheit) als Angelegenheit von Stimmungen und Gefühlen behandelt werden, auch und gerade dann, wenn man sie zu Zwecken der Identifizierung von Opfern und Tätern einsetzt.

Im Grunde stellen sich die Bilder laufend in den Dienst der Produktion von kultureller Differenz. Unter Zuhilfenahme des Visuellen werden die globalen ökonomischen und politischen Differenzen, um die es in den Diskussionen dieser Tage in erster Linie gehen sollte (als einziges Thema einer angemessenen Kritik der Ereignisse und ihrer Ursachen) fortwährend zugedeckt. So vehement die strenge Konvention der „Zäsur“ und des vollkommen Neuen auch deklariert wird: Die Bilder werden weiterhin gemäß der allerältesten ideologischen Muster gefügig gemacht.