nebensachen aus new york
: Pathologie des Patriotismus

E-Mail for US

Ein Text kursiert derzeit im Internet und verbreitet sich wie ein Lauffeuer in den USA. Das Pamphlet geht zurück auf den kanadischen Radio-Autor Gordon Sinclair, der meinte, „es sei an der Zeit, sich für die Amerikaner auszusprechen als die wohl großzügigsten und womöglich am wenigsten geschätzten Menschen der ganzen Welt.“ Offensichtlich treffen solche Worte derzeit einen blank liegenden Nerv, denn sein Loblied auf das amerikanische Volk verbreitet sich in Windeseile von Rechner zu Rechner, und Ausdrucke kleben sogar an Straßenecken in New York.

Gordon Sinclair rechnet auf: „Deutschland, Japan und zu einem geringeren Teil auch Großbritannien und Italien wurden aus den Trümmern des Krieges gehoben durch die Amerikaner, die Millionen von Dollars hineinpumpten und die anderen Millionen von Dollars an Schulden erließen. Keines dieser Länder zahlt heute auch nur die Zinsen dieser verbliebenen Schulden zurück an die Vereinigten Staaten“, so Sinclair. Schlimmer noch: „Jetzt schreiben Zeitungen in diesen Ländern über diese dekadenten, kriegslüsternen Amerikaner.“

Dabei, so Sinclair, stehe die Überlegenheit der USA doch außer Frage: „Hat irgendein anderes Land in der Welt ein Flugzeug hervorgebracht, das dem Boeing Jumbojet, dem Lockheed Tri Star oder dem Douglass 10 gleicht? Wenn ja, warum fliegen sie es nicht?“ Das klingt zwar ungewollt komisch, doch Sinclair ist es bitter ernst, denn er ist „ein Kanadier, der verdammt noch mal genug hat, ständig mit ansehen zu müssen, wie sie herumgeschubst werden“, die Amerikaner. Darum fragt er: „Ich kann Ihnen fünftausend Male nennen, in denen die Amerikaner losgestürmt sind, um anderen Menschen in Not zu helfen. Können Sie mir nur ein einziges Mal nennen, in dem jemand anderes den Amerikanern zu Hilfe kam?“ Trotzdem ist er überzeugt: „Unsere Nachbarn mussten sich dem alleine stellen, und Sie werden aus dieser Sache herauskommen, mit erhobener Flagge, und wenn sie das tun, dann haben sie alles Recht, den Ländern eine lange Nase zu machen, die jetzt voller Häme sind über ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten.“

Der Text stammt aus dem Jahr 1973, nicht von heute. Gordon Sinclair schrieb ihn am 5. Juni jenes Jahres in spontanem Ärger über die Nachrichten, die voll von Kritik an den USA wegen ihres fehlgeschlagenen Vietnam-Engagements waren. Anschließend verlas er das in Eile verfasste Manuskript im kanadischen Radio, in seiner populären Mittagssendung „Let’s be personal“.

Die Wellen, die er damit schlug, hätte er sich nicht träumen lassen: Amerikanische Radio-Stationen übernahmen seine Aufnahme in ihr Programm, und manche spielten den Text gleich mehrmals am Tag. So verbreiteten sich seine Worte und befeuerten die patriotischen Gefühle einer Nation, deren Selbstbewusstsein nach der Niederlage in Vietnam angeschlagen war. Aufgrund der großen Nachfrage wurde die Radio-Ansprache sogar auf eine Single gepresst und mehrere hunderttausendmal verkauft. Sinclair trat seine Autorenrechte an das amerikanische Rote Kreuz ab, dem Millionen an Tantiemen zuflossen.

So stieg Sinclair Gordon auf zum bekanntesten Kanadier in den USA. Als Präsident Ronald Reagen 1982 erstmals den Nachbarn im Norden besuchte, wurde ein Treffen mit dem Radio-Mann arrangiert. Ihm gegenüber bekannte der US-Präsident, eine Kopie der Platte zu besitzen, die er sich auf seiner kalifornischen Ranch von Zeit zu Zeit anzuhören pflegte, wenn die Dinge mal wieder weniger rosig schienen.

Gordon Sinclair erlag 1984 einem Herzanfall und konnte so nicht mehr erleben, wie seine Ansprache nach dem 11. September 2001 als E-Mail wieder zu neuen Ehren kam. Nach dem Terror-Anschlag erinnerte man sich wieder an seinen Text, und der Zugriff auf die Internet-Seiten, auf denen er zu finden ist, stieg kräftig an (www.who2.com /gordonsinclair). Mancherorts wurde er sogar wieder im Radio verlesen. So etwa in Minneapolis, von wo aus eine junge Frau schrieb: „Mister Sinclair erinnert uns daran, wie großartig der amerikanische Geist ist und dass unser Ansehen in der Weltgemeinschaft doch nicht ganz so schlecht ist, wie wir dachten.“

DANIEL BAX