Halbwegs angstfrei leben

Es gibt günstigere Momente: Das Maxim Gorki Theater in Berlin ist unter der Leitung von Volker Hesse wieder eröffnet worden. Zum Auftakt wurde Theresia Walsers „Heldin von Potsdam“ gespielt. Die Storys aus dem Tagesgeschehen von gestern wirken angesichts der Realitäten auf CNN nur hilflos

Meldungen von der „Vermischtes“- Seite, dramatisch aufgepumpt

von ESTHER SLEVOGT

Einen Moment sah es aus, als hätten Aliens am Berliner Maxim Gorki Theater das Regime übernommen. Der kleine Tempel hinter dem Platanen-Hain an der Straße Unter den Linden war in violettes Licht getaucht. Aus den Bäumen flüsterte und klapperte es. Und überall standen plötzlich diese jungen Männer herum, aus deren Mündern seltsame Geräusche kamen.

Vorher, an den Absperrungsgittern vor der amerikanischen Botschaft, an denen der Weg ins Theater unweigerlich vorbei führt, hatten Leute zwischen den von roten Friedhofslichtern illuminierten Blumenbergen über die unterschiedlichen Möglichkeiten des Weltuntergangs diskutiert – Referenzen von Nostradamus und Apokalyptiker Johannes inklusive. Ein Mann hielt das Spiegel-Titelbild hoch, auf dem Rudolf Scharping mit seiner Gräfin im Stahlhelm plantscht. „Make love not war!“ skandierte er verzweifelt und guckte dabei irr, das einem schwindelig wurde. Nach dem Schock ist die Stimmung jetzt ins Irrationale gekippt. Schnell weiter ins Theater, das ein paar Straßen weiter liegt.

Das violette Licht gehört zu einer Installation der Bühnenbildnerin Penelope Wehrli zur Eröffnung des Maxim Gorki Theaters unter neuer Leitung. Die seltsamen Geräusche entpuppen sich als Schwyzerdütsch: Der neue Intendant Volker Hesse hat vorher das Züricher Neumarkt-Theater geleitet und von dort eine Menge Schweizer mitgebracht.

Zum Beispiel Samuel Schwarz und Raphael Urweider, die im Gorki Studio einen höchst seltsamen, aber irgendwie charmanten Theaterabend mit dem Titel „Neue Mitte“ zeigten. Verarbeitet waren Fetzen aus dem Assoziationsraum der New Economy, die das Unbehagen am Turbokapitalismus thematisierten: so zwischen Platon, Pixelpark-Gründer Paulus Neef und den Leuten von Seldwyla, wo Gottfried Keller einst den Aufbruch in die Moderne exemplarisch durchexerzierte. Er ließ sie dort über die Menschen wie ein Naturereignis hereinbrechen, dem sie nichts entgegensetzen können.

Bei Schwarz funktioniert das als schräges Kammerspiel mit acht ganz wunderbaren Schauspielern (besonders: Fabian Krüger, Siegfried Terpoorten und Norman Schenk). Aus der Welt der Manufakturen im 19. Jahrhundert mitten hinein ins 21. Jahrhundert, wo gechattet, gepitcht und so entfremdet gelebt und gearbeitet wird, dass man sich glatt nach den ausbeuterischen Verhältnissen von früher sehnt. Auch nach dem 11. September und dem Wissen, dass im Herzen der New Economy jetzt das blanke Entsetzen herrscht, ist der Abend keinen Moment peinlich.

Aber dies war erst der zweite Abend. Ein dritter, mit dem Titel „Familie Gorki“, wird verschoben. In dieser Bühnen-Soap sollte eine reichlich schräge Familie Tagespolitik zum Theaterthema machen. Doch Aktualität als Blödelshow ist für Volker Hesse jetzt nicht mehr machbar. Das Projekt wird überdacht und neu konzipiert. Eröffnet wurde das Theater mit der Uraufführung von Theresia Walsers „Die Heldin von Potsdam“. Zu Grunde liegt eine wahre Begebenheit: Weil sie einer alten Frau geholfen hätte, behauptete eine Frau, wäre sie von Skinheads aus der Straßenbahn geworfen worden. Für kurze Zeit wird sie zur „Heldin von Potsdam“ – bis sich die ganze Geschichte als Lüge entpuppt.

Lauter Verlierer bevölkern Stück und Bühne – Menschen, von denen Dichter wahrscheinlich höchstens in der Zeitung lesen. Theresia Walser hat ihnen fein ziselierte und höchst prätentiöse Sätze in den Mund gelegt. Doch aus vielen dieser Sätze spricht die Verachtung des Intellektuellen für die so genannten kleinen Leute und deren Sehnsucht nach einem gesicherten Job und einem halbwegs angstfreien Leben. So kippt das humorige Stochern in den Eiterbeulen des deutschen Schuldgefühls unvermittelt ins Ressentiment.

Mitunter raschelt das Zeitungspapier, aus dem das Stück gebaut ist, ziemlich ohrenbetäubend. Meldungen von der „Vermischtes“- Seite, dramatisch aufgepumpt: Mütter, die ihre Kinder töten; Inder, die nicht kommen wollen; Brandenburgs berüchtigte Alleen und der Sog, den sie auf Autofahrer haben. Es weht sogar Rauch verbrannter BSE-Rinder durch den Abend. Meldungen von gestern, aus den Zeitungen von vorgestern. Wahrscheinlich gibt es günstigere Momente, um eine Intendanz zu beginnen. Doch auch unter normalen Umständen hätte man eine Szene wie diese nur peinlich gefunden. Da sollen drei Ausländer als Opfer rechter Gewalt in einer Talkshow auftreten. Walser und Hesse lassen sie wie Idioten stammeln. Im Programmheft sind sie als „Ausländer 1,2,3“ durchnumeriert. Hier will das Theater die Medien kritisieren und stellt sich nur selbst schrecklich bloß. Nach den langen CNN-Tagen der letzten Woche wird einem die Unfähigkeit des Theaters, tatsächlich auf aktuelle Ereignisse angemessen zu reagieren, hier schmerzlich bewusst. Theater und Aktualität: Volker Hesse und sein neues Gorki Theater werden nicht die Letzten sein, deren Ansprüche an den neuen Realitäten zerschellen könnten.