Die Illusion vom Tod als Befreiung

Wenn sich das Kino und das Leben gegenseitig mit praxisbezogenem Anschauungsmaterial versorgen: Jean-Luc Godards großartiger und vierzig Jahre alter Film „Die Geschichte der Nana S.“ kommt jetzt wieder in die Kinos

Kino als etwas Lebendiges zu betrachten, klingt heute nach einer fast lächerlichen Forderung, die eigentlich nur noch als esoterischer Quatsch abgetan werden könnte. Schon die bedrückende Totalität einer Spielfilm-„Einheit“ aktuellen Standards verhindert per se das „Atmen“ der einzelnen Disziplinen, von der Kameraarbeit über die szenische Gestaltung und die Schauspielerei bis zur Musik. Wo deren Wirkungsweisen sich stets unabänderlich bedingen (müssen), wo die einzelnen gestalterischen Ausdrucksformen zu einem absoluten, bruchlosen Ganzen gefügt werden, schwindet dem Medium die Fähigkeit zu so etwas wie einem kinematischen Metabolismus. Es gibt keine Durchdringungen mehr, keinerlei Austausch zwischen den Widersprüchen (sondern eben nur noch absolute Sinneinheiten), kein Nachklingen der momenthaften Intensitäten, kein freies Spiel der Zeichen und daraus resultierend auch immer seltener gesellschaftlich relevante Konstellationen innerhalb des jeweiligen Sujets, die Verbindungen herstellen zu tatsächlichen Umständen.

Ein politischer Film sieht heute aus wie ein politischer Film, ein Liebesfilm wie ein Liebesfilm; reine Oberfläche. Solche Gedanken beginnt man sich also wieder zu machen im Godard-Jahr, und das zu Recht; um sich mal wieder vor Augen zu halten, dass man es bei den Filmen von Godard immer mit erkenntnisreichen Weltbildern zu tun hat. „Kino“ und „Leben“ waren hier nie eine Frage von „entweder/oder“ und schon gar nicht ernsthaft in Deckung zu bringen, sondern zwei autarke Systeme, die sich in den besten Momenten (des Kinos!/des Lebens?) gegenseitig mit praxisbezogenem Anschauungsmaterial versorgten, ohne didaktisch zu großkotzig rüberzukommen.

Jean-Luc Godards „Die Geschichte der Nana S.“, der jetzt wieder in die Kinos kommt, ist der Idealfall eines solchen Films. „Mein Leben zu leben“ (so die deutsche Übersetzung des absolut treffenden Originaltitels) „lebt“ (womit wir wieder am Anfang wären) von seiner geduldigen Aufmerksamkeit für seine Hauptfigur, einem distanzierten Verständnis ohne Sentimentalitäten. Er ist ganz bei seiner Figur, bewundert sie, verfällt ihr, kann sie letztlich aber genauso wenig verstehen wie Nana sich selbst. So weit dürfte solch ein Erkenntnisprozess auch niemals gehen. Wenn man das Außen wegnimmt, bleibt das Innen. Wenn man das Innen wegnimmt, bleibt die Seele. Das gilt für Hühner (in den Augen eines kleinen Mädchens) wie für menschliche Beziehungen (Nanas).

Was aber, wenn das Außen das Innen erdrückt und die Seele zu einem Spielball patriarchaler Begehren wird? Wenn die Seele immer wieder an die Grenze zum Außen stößt? Wie das ist, wenn Menschen an ihren Leidenschaften scheitern, weil man sie immer wieder klein hält, ist festgehalten in der Lakonie von Godards Zwischentiteln. Hier zeigt sich das ständige Ringen um Leidenschaft ohne Leidenschaft; Fragmente von Liebe – mit Option auf Wahrhaftigkeit, wie Nana glaubt – sind da womöglich die letzte Verhandlungsmasse im unwürdigen Feilschen für ein würdevolles kleines Leben.

Allein das zehnminütige Gespräch Nanas mit dem Philosophen Brice Parain, das hier erstmals in voller Länge zu sehen ist, ist genug Daseinsberechtigung für einen 40 Jahre alten Film. Nanas Abdriften in die Prostitution ist vor allem eine soziale und ökonomische Katastrophe. Aber ihr Scheitern ist unabänderlich, weil Kräfte sie halten, denen sie nichts entgegenzusetzen hat. Als sie schließlich ihr Glück gefunden hat, ist es bereits zu spät.

In ihrem Streben nach einem bürgerlichen Glück erinnert Nana an die Prostituierte Kelly aus Sam Fullers „The Naked Kiss“ und in der Rigorosität dieses Strebens an Dreyers „Gertrud“: Ihr eiserner Wille gibt ihr die Kraft, dieses Martyrium in einem entemotionalisierten Milieu zu durchstehen, aber letztlich wird es ihr nur zum Verhängnis. Die Verhältnisse zwingen einen immer wieder in die Knie. Da wird es fast nebensächlich, dass es am Ende die Kugeln ihres eigenen „Beschützers“ sind, die ihren Traum zum Platzen bringen. Der Tod als Befreiung bleibt die letzte Illusion. Das hatte Nana vorher auch schon im Kino erfahren. ANDREAS BUSCHE

„Die Geschichte der Nana S.“: In den Kinos Blow Up, fsk und Hackesche Höfe