Angst vor der Schlange mit zwei Köpfen

Der Vater war Revolutionär, heute fürchtet er islamische Fundamentalisten. Die Mutter hat sich nie verschleiert, glaubt aber an den Koran. Die Tochter will sich nicht für das entschuldigen, was momentan in ihrer Heimat passiert. Ein Besuch bei einer Familie aus Afghanistan, die in Deutschland lebt

Nach vierzehn Jahren Kampf ist der Vater von Maryam sehr müde geworden„Wir haben die besten Partys gefeiert,auch um den Kriegzu vergessen“

von SUSANNE MESSMER

Wenn man sie auf der Straße trifft, trägt Maryam ihre Jeans oft auf Hüfte, natürlich nie Kopftuch, macht gern mal einen guten, hessischen Witz, eine coole Geste dazu und ich bilde mir ein, ich habe sie in letzter Zeit mal „Yo“ sagen hören. Maryam ist Afghanin. Ich erinnere mich, dass sie mal Jura studieren wollte wie ihr Vater, da war sie noch ein Teenager. Dann hat sie Fremdsprachensekretärin gelernt. Jetzt ist sie 23, jobbt bei einer Baufirma und macht nebenher Abendgymnasium, weil sie doch noch studieren will. Sie hat eine Band und obwohl ihre Eltern ihr zu einem Sprachstudium raten, will sie lieber Modedesign studieren. Neulich hat sie mir erzählt, wie sie eine Landsfrau in London besucht hat, die sie deshalb ausschimpfte. „Was willst du mit Modedesign“, habe sie sie gefragt, „stell dir vor, du willst doch noch mal nach Afghanistan zurück.“ Maryam findet, dass da was dran ist, „natürlich würde ich viel lieber da umsetzen, was ich drauf habe, als hier“.

Als ich morgens bei Maryam klingle, ist sie noch Brötchen für unser Frühstück holen. Ich schenke ihrer Mutter Blumen und bestehe darauf, mir die Schuhe auszuziehen. Später kommt mir das albern vor, weil ich in einer Wohnung stehe, die kein bisschen exotisch oder wenigstens kitschig wirkt, wie ich das von türkischen Schulfreundinnen kenne, deren Eltern zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Akademiker aus der arabischen Welt sind in meinem Umfeld selten: Maryams Mutter trägt kein Kopftuch, sondern Hose und Strickjacke. Sie duzt mich gleich und bittet mich, im Wohnzimmer zu warten, während sie mit ihrem Mann den Tisch decken will. Nebenan zieht er sich schnell noch Socken an, kommt dann zu mir und schüttelt mir die Hand. Er gebietet Respekt, obwohl er noch ganz verschlafen aussieht. Als Maryam zurückkommt, sagt sie: „Meine Eltern schlafen seit vielen Tagen kaum noch. Wir haben noch viele Verwandte und Freunde in Afghanistan, die wir seit Tagen telefonisch nicht mehr erreichen können, wir sitzen vorm Fernseher Tag und Nacht. Ich bin froh, dass ich rausgehen kann und ab und zu davon wegkomme.“

Maryams Familie, ihre Eltern und ihre vier Geschwister, leben seit Ende 1990 in Deutschland. Als sie vor den Mudschaheddin über Russland nach Deutschland flüchten mussten, war Maryam zwölf. Ihr Vater war Richter, ihre Mutter ist aus einem alten adeligen Geschlecht, ihr Ururgroßvater war ein König von Afghanistan, Ahmad Shah Abdali Durrani, der das Land zum größten muslimischen Reich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte.

Die Familie gehörte zur Oberschicht. Wir haben uns kennen gelernt, als die Schwierigkeiten, sich im neuen Land zurechtzufinden, schier unüberwindbar schienen: Sie versuchten es mit einer Imbissbude und scheiterten daran, weil sie das Essen zu liebevoll und zu zeitaufwendig zubereiteten. Sie versuchten, der ältesten Tochter nach Kanada zu folgen, und wünschten sich nach Indien, wegen der Wärme. Inzwischen ist Maryams Bruder Arzt und der Stolz der Familie, die jüngsten Kinder wollen nicht mehr weg. Ihre Eltern haben Jobs, über die sie nicht reden wollen, von denen sie aber gut leben können, und sie sprechen viel besser Deutsch als damals.

Maryams Mutter erzählt, wie sie Heimatgefühle bekam, als sie von einem Besuch in Kanada nach Deutschland zurückgekommen ist. Sie sagt: „Ich kann hier keinen guten Job finden, will aber beschäftigt sein, mich nicht auf Hilfe verlassen müssen, meinen Kindern ein Vorbild sein. Ich schiebe mich immer an, halte den Kopf hoch. Viele können das nicht, finden das erniedrigend.“ Alle drei haben sich extra frei genommen. Als ich mit Maryam telefoniert und sie und ihre Eltern um ein Gespräch gebeten hatte, waren zunächst alle voller Zweifel gewesen: Maryam, weil sie denkt, sie hat keine Ahnung von Politik, ihre Eltern, weil sie Angst haben. Nun reden doch alle gleichzeitig auf mich ein.

Als wir um den Tisch sitzen, überreiche ich Maryams Vater eine aktuelle Ausgabe der taz und erkläre ihm, weshalb ich hier bin. Skeptisch stellt er mich auf die Probe: „Was für eine Zeitung ist Ihre Zeitung“, fragt er mich, und: „Seit 100 Jahren bedeutet rechts Kapitalismus, Imperialismus, Radikalismus, links dagegen Kommunismus und Sozialismus.“ Er will wissen, warum sich die SPD sozialistisch nennt und ob die Grünen aus meiner Sicht besser sind als die SPD. Das kann ich ihm nicht sagen, aber als ich ihm sage, es sei zu befürchten, dass es Muslime in Deutschland in Zukunft wieder schwerer haben werden, gibt es eine gemeinsame Ebene. Maryam nickt mit dem Kopf und meint, sie habe in Deutschland nie etwas Ausländerfeindliches erlebt, aber jetzt habe sie Angst: „Bisher wussten manche nicht einmal, wo Afghanistan überhaupt liegt, jetzt sind alle aufmerksam geworden. Die meisten wollen von mir, dass ich mich für Afghanistan entschuldige. Das werde ich natürlich nicht tun.“

Maryams Vater unterbricht seine Tochter. Er erzählt, dass er vierzehn Jahre gegen den islamischen Fundamentalismus gekämpft habe und jetzt müde geworden sei, sehr müde. Er erzählt von der Aprilrevolution und den Zielen seiner Partei, Afghanistan aufzubauen. Man sei sozialistisch gewesen, schon wegen des Freundschaftsvertrags mit der Sowjetunion. Er bleibt vage, keine Daten, keine Namen, es gibt genug Fundamentalisten, vor denen er sich noch immer fürchten muss. Doch kann man sich vieles dazu denken: Laut UNO gehörte Afghanistan bis in die Siebzigerjahre zu den 25 ärmsten Ländern, war fast ohne Industrie. Achtzig Prozent der Leute lebten von Landwirtschaft, mehr als neunzig Prozent waren Analphabeten.

Dies sollte im Zuge der Aprilrevolution 1978 geändert werden. Die afghanische kommunistische Partei, in der Illegalität gegründet, bestand aus städtischen Intellektuellen mit diffusen marxistischen Ideen. Man wollte die feudalen Strukturen des Landes aufbrechen, eine Bodenreform und Zwangsalphabetisierung. Die Wünsche des Volkes wurden zu sehr übergangen: In Afghanistan gab es bis dahin Stämme, bei denen noch Leibeigenschaft und Brautkauf üblich war, die sich dem Militärdienst und der Steuerpflicht entzogen hatten. Maryams Vater erzählt, dass seine Leute auch nach dem russischen Einmarsch 1979, als der Bürgerkrieg eher schlimmer als besser wurde, weiter an der Modernisierung gearbeitet haben: „Wir haben Häuser, Fabriken, Autobahnen, Schulen und Universitäten gebaut, es gab genug Lebensmittel für alle, die Frauen haben gearbeitet und sich weitergebildet.“ Seine Augen leuchten, als er das alles aufzählt.

Maryam schildert die Jahre in Afghanistan als ihre besten bis jetzt, „wir haben schön gelebt und ich war absolut glücklich“. Sie erzählt davon, wie die Bomben flogen, wie sie oft in der Schule von den Lehrern in den Keller gebracht wurden, „so was habe ich auch erlebt. Aber trotzdem haben wir die besten Partys gefeiert, vielleicht auch, um den Krieg zu vergessen. Es gab so viel Freude und so viel Familie.“ Bei der Flucht, erzählt sie, sei es so gewesen, als würde man sein Herz liegen lassen und mit dem Körper weitergehen.

Maryams Vater sagt das anders: „In unserem Regime haben wir gegen alle Welt gekämpft“, erzählt er und meint damit die Einmischung der westlichen Länder, besonders Amerikas und Pakistans. Schon sechs Monate vor dem russischen Einmarsch, mitten im Kalten Krieg, haben amerikanische Geheimdienste geholfen, die islamistischen Mudschaheddin zu der schlagkräftigen Organisation auszubilden, die bis zu ihrem Sieg 1992 das Land in Angst und Schrecken versetzte, in Schutt und Asche legte.

„Amerika hat den islamischen Fundamentalismus in Afghanistan gefördert und nicht gemerkt, dass diese Schlange zwei Köpfe hat. Jetzt wissen sie es“, sagt Maryams Vater. Damit spielt er auch auf Amerikas Unterstützung der Taliban an, die zunächst mehr politische und wirtschaftliche Stabilisierung versprachen als ihre Vorgänger, dann aber aufgrund ihrer Frauenfeindlichkeit, ihrer Menschenrechtsverletzungen und ihrer Unfähigkeit, ein wichtiges Pipeline-Projekt zu sichern, für die westliche Welt untragbar wurden. Er teilt die Meinung vieler Afghanen, dass die Taliban von der pakistanischen Armee ausgebildet wurden und als Spielfiguren Pakistans zur Sicherung von Exportwegen benutzt werden.

Maryams Mutter ergänzt ihren Mann: „Man kann sich unmöglich über diesen Angriff in den USA freuen, das waren unschuldige Leute. Terrorismus ist ein schweres Verbrechen und Missbrauch des Islam“, sagt sie, „aber jetzt weiß Amerika, was das für Schmerzen sind, die wir seit Jahren durchmachen.“ Krieg ist für Maryams Eltern keine politische Lösung. Die Bomben auf Afghanistan würden nicht die Taliban treffen, nur die ärmsten der Armen, die das Land nicht verlassen konnten. Sie haben Angst vor einem weiteren Krieg in ihrem sowieso schon zerstörten Land, ihre Hoffnung, jemals ihre Heimat wiederzusehen, schrumpft von Tag zu Tag. Trotzdem hoffen sie nach wie vor, dass die Taliban Bin Laden ausliefern werden.

Maryams Familie ist religiös, im Regal stehen mehrere Ausgaben des Koran, in dem sie fast jeden Abend lesen. Maryam erzählt von ihrem Großvater, der dreizehn Kinder hatte und alle studieren ließ. „Mein Opa hat geleuchtet, er war so ein netter, harmloser Mensch und ist verarmt, weil er alles, was er hatte, als Almosen verschenkt hat, so wie es vom Koran verlangt wird.“ Das, was jetzt in Amerika passiert ist, hat wenig mit Religion zu tun und eigentlich noch nicht einmal etwas mit Fundamentalismus, findet Maryams Mutter. „Das ist der Hass“, sagt sie und bittet mich, mir einen Muslim vorzustellen, der seit Jahrzehnten im Krieg lebt, während sich der Westen immer weniger für seine Probleme interessiert. „Für den ist Religion nur ein Name für den Hass.“

Als ich aufbrechen will, sehe ich auf dem Regal ein Foto von zwei Frauen, die um den Kopf locker ein Tuch geschlungen haben. Maryams Mutter erzählt mir, das seien ihre Schwestern in Afghanistan, sie seien eigentlich noch viel zu wenig verhüllt, und auch das unfreiwillig. Sie selbst habe sich nie verhüllt. Maryam sagt: „Ich glaube, dass die Frauen in Afghanistan derzeit das Armseligste sind, was es gibt auf der Welt.“