Glühende Mädchen in trübem Wasser

Zwei Liebesgeschichten werden erzählt, die eigentlich eine sind. Ein westliches Märchen wird variiert, westliche Werte reflektiert, Referenzen ans amerikanische und europäische Kino werden aufs Raffinierteste geleistet. Lou Yes Film „Suzhou River“ ist Vorhut einer chinesischen Nouvelle Vague

von BIRGIT GLOMBITZA

Die Art, wie sie beim Gehen die Arme verschränkte. Trotzig und schüchtern zugleich. Wie sie sich durch die Haare wuselte, bevor sie wieder mal plötzlich verschwand. Doch diesmal ist es anders. Diesmal kommt Meimei nicht wieder. Und der, den sie verlassen hat, denkt überhaupt nicht daran, sie zu suchen. Immerhin ist sie ja noch in seinem Kopf. Das reicht, Liebe ist schließlich eine Frage der Imagination, denkt sich der Bursche und stöbert, während er stromaufwärts über den Suzhou-Fluss durch Schanghai fährt, weiter durch seine Erinnerungen.

Er sieht sie vor sich, wie sie sich die Barbiewimpern anklebte, die blonde Perücke aufsetzte und sich in den Fischschwanz zwängte, um vor Bargästen in einem Aquarium herumzutauchen. Wie sie ihn durch das trübe Wasser anlächelte. Und nur ihn. Ihn allein, den egozentrischen Erzähler mit der Belmondo-Stimme. So sind sie, die Meerjungfrauen. Ewig unberührte, aber vor Sehnsucht glühende Mädchen aus einem anderen Element. Sie weinen, wenn man sie nicht in den Arm nimmt; und sie sterben auf der Stelle, wenn man sie nicht mit voller Wucht zurückliebt. Mysteriös und erotisch, unschuldig und treu zugleich. So sind sie, die Projektionen: Kaum ein Film erzählt nach Alfred Hitchcocks „Vertigo“ so raffiniert und klug von ihnen wie jetzt „Suzhou River“ von Lou Ye.

Der zweite Film des chinesischen Autors und Regisseurs entstand unter abenteuerlichen Bedingungen. Nach den Dreharbeiten in Schanghai wurde er in Berlin heimlich geschnitten, in Peking gemischt, wieder nach Deutschland geschmuggelt, um dann auf dem Rotterdamer Filmfestival seine Weltpremiere zu feiern. Dort erhielt er den „Tiger Award“ und wurde anschließend auf diversen internationalen Festivals als Vorhut eines neuen chinesischen Films gelobt. Tatsächlich ist von der großen chinesischen Erzähltradition eines Chen Kaige („Lebwohl, meine Konkubine“), Tian Zhuangzhuang („Der Blaue Drache“) oder Zhang Yimou („Die rote Laterne“) nichts mehr übrig geblieben. Verspielt umkreist „Suzhou River“ seine Figuren, schildert Begegnungen zwischen Zufall und Sehnsucht, mal schwer, mal hüpfend erzählt. Eine chinesische Nouvelle Vague.

Selbst das Mystische in „Suzhou River“ ist einem westlichen Märchen – eben der „kleinen Meerjungfrau“ – entlehnt. Auch über die Realität westlicher Warenwerte, einschließlich der Filmindustrie selbst, ist der Film von Anfang an im Bilde. „Ich bin Videographer. Bezahl mich, und ich mache Bilder, aber beklage dich nicht, wenn dir das, was du siehst, nicht gefällt“, sagt der Ich-Erzähler anfangs und sprüht seine Eigenwerbung auf die Wände.

Um das Spiel mit Projektionen zu verdichten und die falsche Exklusivität der männlichen Sehnsucht in der Banalität aufgehen zu lassen, spiegelt „Suzhou River“ die Liebesgeschichte von Meimei und dem Auftragsfilmer geschickt in einer anderen Romanze. In der zweiten Variante gibt es den Motorradkurier Madar, den die Kundschaft vor allem wegen seiner Diskretion schätzt. Eines Tages soll er das Mädchen Moudan transportieren und schließlich entführen. Dass er sich verliebt hat, passt nicht ins Geschäft, dass die Geliebte von einer Brücke in den Fluss springt und nicht wieder auftaucht, nicht zu einem Happy End. Seitdem sucht Madar seine Moudan – sucht und sucht.

Moudan/Meimei: Objektiv betrachtet ist eine wie die andere, und wird auch von derselben Schauspielerin gespielt – Zhou Xun, mal als Schulmädchen mit Zöpfen, mal als Barschlampe mit blonder Perücke. Doch in „Suzhou River“ zählt nur das Subjektive. Und in diesem Blickwinkel ist die Einbildung Königin. Deswegen träumen Kindfrauen hier von Männern, die sie suchen und erlösen, und Jungmänner von Mädchen, die sie retten können. Deswegen scheint auch der Erzähler und Auftragfilmer nur aus seiner Off-Stimme und seinem Blick durch den Sucher zu bestehen. Manchmal sehen wir seine Hände von links und rechts ins Bild kommen, um Meimeis Köpfchen zu streicheln. Eine streng durchgehaltene Subjektive wie einst bei Delmer Daves „Dark Passage“ (1947), bei dem die erzählende Hauptfigur nie im Bild zu sehen ist, bis sie nach einer ominösen Gesichtsoperation aussieht wie Humphrey Bogart.

Auch dies ist eine von vielen Referenzen ans amerikanische und europäische Kino. Überhaupt funktioniert „Suzhou River“ wie eine kleine Motivgeschichte: Die veristischen Bilder etwa, die der Erzähler als „Kinoauge“ liefert, verweisen auch auf die Experimente des frühen russischen Films. Anders als sein filmhistorischer Vorgänger Dsiga Vertov, der vor 80 Jahren das postrevolutionäre Leben einfangen wollte, interessieren sich bei Lou Ye die Protagonisten nicht für die raue gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern suchen sich ihre melancholischen und höchst individuellen Nischen. Menschen, die aufeinander prallen wie Billardkugeln, umeinandertrudeln, sich in eine neue Richtung schubsen und dabei die Orientierung darüber verlieren, was ist und was nicht. Bald schon ist nur noch so viel sicher: Das Leben ist ein Film und die große Liebe eine Doppelbesetzung.

„Suzhou River“. Regie: Lou Ye. Mit: Zhou Xun, Jia Hongsheng, u. a., China/Deutschland 2000, 83 Min.