Die Prioritäten des Leviathans

Gibt es Übleres als einen gewaltsamen Tod? Leo Strauss’ gerade neu edierte Schrift „Die Religionskritik des Hobbes“ erweist sich nach den Anschlägen in den USA als hoch aktuell. Die Religion wird als „Feindin der Politik“ analysiert

Der Kampf zwischen Glauben und Unglauben sei „das eigentliche, einzige und tiefste Thema aller Welt- und Menschengeschichte“. Mit diesem Zitat aus Goethes Noten zum „West-Östlichen Divan“ beginnt 1933 der damals 34 Jahre alte Leo Strauss im Pariser Exil eine Arbeit über „Die Religionskritik des Hobbes“, der er den Untertitel gibt: „Ein Beitrag zum Verständnis der Aufklärung“. Kurz darauf kann er in England seine Forschungen zur politischen Philosophie fortsetzen, der Herzog von Devonshire erlaubt ihm, unveröffentlichte Papiere von Hobbes auf Schloss Chatham durchzusehen. Strauss gelangt dadurch zu neuen Einsichten über die philosophische Entwicklung von Hobbes.

Das schon seit längerem geplante und schon fortgeschrittene Buch über die politische Philosophie von Hobbes, das 1936 in Oxford erscheint und erst, in veränderter Fassung, 1965 in Deutsch: „Hobbes’ politische Wissenschaft“ will Strauss zeitweilig nur als Überleitung zu der Studie über die Religionskritik verstehen, denn in ihr glaubt er das Wesentliche entdeckt zu haben. Denn wenn Goethe Recht hat, so fährt das Manuskript von 1933 fort, „so gebührt der Religionskritik des Hobbes die größte Aufmerksamkeit. Unter den zahlreichen Bestreitungen der Religion, der offenbarten wie der natürlichen, welche das klassische Zeitalter der Religionskritik – das 17. und das 18. Jahrhundert – hervorgebracht hat, gibt es nicht viele, die an geschichtlicher Wirksamkeit, gibt es wenige, die an Entschiedenheit der Leugnung, gibt es keine, die an Radikalität der Begründung mit derjenigen, die in Hobbes’ Leviathan vorliegt, zu vergleichen wäre.“

Das Verdienst, diese wahrhaft aufregende Schrift veröffentlicht zu haben, gebührt Heinrich Meier, der sie jetzt im dritten Band der „Gesammelten Schriften“ von Leo Strauss zusammen mit dem bekannten Hobbes-Buch, kleineren Texten – so Anmerkungen zu Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ von 1932 – und vier Briefwechseln des Mannes vorlegt, der 1938 in die USA ging und an der Universität von Chicago eine reiche und überaus wirksame Tätigkeit als Gelehrter und Lehrer entfaltete.

Der Freiburger Heinrich Meier, Schüler von Wilhelm Hennis und seit 16 Jahren Chef der Siemens-Stiftung in München, hat bereits 1996 einen bemerkenswerten Vortrag über „Die Denkbewegung von Leo Strauss“ publiziert. Er ist mit dem Philosophen und seiner Schule bestens vertraut. Mit diesem dritten Band seines hoch ambitionierten Editionsunternehmens könnte er eine neue Epoche in der Auffassung von politischer Philosophie in Deutschland einleiten. Die aktuellen Anstöße dazu sind gerade in diesen Tagen nach den Anschlägen in den USA in bedrängender Weise da.

Strauss’ Formulierungen aus der nun erstmals zu lesenden Arbeit lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Die Religion ist „die Feindin der Politik“, wie sie Hobbes versteht. „Denn diese Politik fußt auf dem Axiom, daß der gewaltsame Tod das größte Übel ist; die Religion hingegen lehrt, dass es ein größeres Übel als selbst den gewaltsamen Tod gibt.“

Was soll Politik? Sie soll Menschen ein Zusammenleben möglich machen, bei dem sie nicht ständig gewärtig sein müssen, vom Nachbarn erschlagen zu werden. Es gilt, den Krieg aller gegen alle, den Menschen von Natur aus zu führen gewohnt sind, zu überwinden, im Staat und im Verhältnis der Staaten untereinander. Solche Sicht der Aufgabe von Politik geht von einer pessimistischen Einschätzung des Menschen aus. Immerhin unterstellt sie aber auch ein Interesse an sicherem Leben. Dieses Interesse kann zu politischer Einsicht führen. Der Staat ist die Veranstaltung, die den Krieg aller gegen alle beendet. Dazu darf der Staat vom Bürger alles fordern – nicht jedoch das Leben, denn um das zu schützen ist er ja da.

Die Religion lehrt andere Prioritäten. Deshalb kann die Politik sich nur behaupten, wenn die Lehre der Religion widerlegt ist.

Hier lagen Hobbes’ Schwierigkeiten. Als Philosoph kannte er die politischen Aussagen der Antike von Sokrates bis Aristoteles. Die waren nicht falsch und an sie gedachte er anzuknüpfen. Aber die Wahrheit der Alten hatte sich nicht behaupten können gegenüber den Ansprüchen der Theologie, die sich in den unmittelbar vor Hobbes liegenden Jahrhunderten die Philosophie unterworfen hatte. So musste seine Religionskritik Kritik der Offenbarungsreligion sein. Strauss zeigt, dass in dem berühmtesten Buch von Hobbes, dem „Leviathan“, zwei Kapitel der Kritik der natürlichen Religion gelten, aber 16 Kapitel der Kritik der Offenbarungsreligion. In der Kritik der Offenbarung, resümiert Strauss, verbirgt sich die eigentliche Grundlegung von Hobbes’ Politik, ja seiner ganzen Philosophie.

Und tatsächlich verbirgt sie sich hier mehr, als dass sie sich zu erkennen gäbe. Hobbes war kein Atheist, wollte auch nicht als solcher erscheinen. Deshalb richtete er seine Kritik nicht so sehr gegen die Offenbarung selbst als vielmehr gegen die Theologenmeinungen über die Offenbarung. Das Muster sah etwa so aus: Glaube – ja. Gott gehorchen – ja. Aber woran erkennt man, ob ein bestimmter Befehl wirklich oder nur angeblich von Gott herrührt?

Leo Strauss ist einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. Aber er gehört zu jenen Philosophen, die ihr Werk ausschließlich der Analyse maßgeblicher Texte der Tradition gewidmet haben. In der Destruktion dieser Texte folgt er Martin Heidegger, was er nicht verschwieg. Zu dieser Arbeitsweise sah er sich genötigt, weil es für ihn darum ging, das besondere Ziel philosophischen Bemühens wieder zu entdecken. Strauss hat dafür das Bild von der zweiten Höhle, die seit langer Zeit die philosophische Tradition unter der ersten, der platonischen ausgehoben und in die sie sich verkrochen habe. Die Arbeit über die Religionskritik von Hobbes habe er, sagte er später, deshalb nicht weitergeschrieben, weil er sich zunächst mit Platonischem befassen musste.

Die Philosophie, bemerkt Strauss, die auf die Antike folgte, habe vor allem zwei Ziele verfolgt: Wie kann man die Welt besser machen? Und: Wie kann man das Wissen sicherer machen? Für die Alten aber sei die Frage der Philosophie gewesen: Wie soll man leben? Diese Frage beantworten Religionen mit strengem Gehorsamsanspruch: nach dem Gesetz. Der Philosoph muss antworten: nach der Wahrheit. Doch dabei geht es in der Politik um die wahre Natur des Menschen. Und die ist unhistorisch. Daher der Rückgang von Hobbes auf Thukydides und Euklid. Das zeigt Strauss. JÜRGEN BUSCHE

Leo Strauss: „Gesammelte Schriften, Band 3. Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften; Briefe“. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2001. 799 Seiten, Subskriptionspreis 89,80 DM