Die Enthauptung eines Riesen

Denkmalschutz mit Dynamit: Durch die Sprengung der Schornsteine von Vockerode haben alle verloren: die Gemeinde einen Standort, das Land eine Landmarke und das Weltkulturerbe Wörlitzer Park ein spannungsvolles Tor. Allzu naive Maßstäbe des Schönen haben sich hier durchgesetzt

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Dieser Einsatz für das Schöne bedient sich explosiver Mittel. Ein halbes Jahrhundert lang stachen die vier Schornsteine des stillgelegten ehemaligen Kraftwerkes Vockerode an der Elbe neben der Autobahn Berlin–Leipzig 140 Meter hoch aus der flachen Landschaft. Mit ihrer Sprengung am vergangenen Samstag setzt sich eine Tendenz fort, für die im Juni 2000 Antje Vollmer, Bundestagspräsidentin und kulturpolitische Sprecherin der Grünen, das Wort ergriff. Sie forderte eine Konzentration des Denkmalschutzes auf die vor 1850 entstandenen Bauten und schloss damit die Zeit seit der Industrialisierung aus.

Mit der Sprengung bahnt sich nun genau diese einseitige Bereinigung der Geschichte an: Gepflegt wird die Kulturlandschaft der Aufklärung als touristischer Anziehungspunkt und Denkmal einer Zeit, mit deren Reformen und Bildungsidealen man sich gerne wieder identifiziert. Die Zeugnisse der Industrialisierung Mitteldeutschlands in den Dreißigerjahren und der Industriegeschichte der DDR dagegen bleiben außen vor. Dabei sind sie nicht nur topografisch eng verflochten, sondern bilden auch inhaltlich ein dialektisches Programm.

Die Region verlor jetzt mit den Schornsteinen nicht nur eine Landmarke, sondern auch ein Symbol für das Konzept des „industriellen Gartenreiches“. Unter diesem Motto liefen seit 1990 Initiativen, aus den verstreuten Parklandschaften des 18. Jahrhunderts und den mächtigen Altlasten einer stillgelegten Industrie eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln.

Als das Kraftwerk nahe der neuen Autobahn Berlin–Nürnberg 1937 für sechs Turbinen gebaut wurde, sollte es vor allem Flugzeugbauern in Dessau und Wittenberg, Munitionsfabriken und den Buna-Werken in Schkopau, die Deutschland mit synthetischem Kautschuk versorgten, Strom liefern. Diese Kriegsproduktion zog 1945 die komplette Demontage nach sich. Ab 1950 wieder errichtet, wurde es zu einem Symbol des sozialistischen Fortschritts, wie die Ausstellung „unter Strom“ dokumentierte, die 1999 von der Expo 2000 Sachsen-Anhalt GmbH im fünf Jahre zuvor stillgelegten Kraftwerk eingerichtet wurde. Der Neuaufbau orientierte sich an den alten, expressiven Architekturformen, die den funktionalen Ablauf in eine dynamische Staffelung übersetzten.

Wer bei Führungen in die großen Maschinenhalle kommt, fühlt sich zwischen den hohen Stützen unwillkürlich an große Kathedralen erinnert. Für Ausstellungen und Konzerte wurden die Kesselhäuser 1997 zugänglich gemacht, sodass man mitten zwischen den Siederohren stehen und einen Vorgeschmack der Hölle ahnen kann. Fotografen, Künstler und Architekten lieben diese dramatische Bühne, und ehemalige Kraftwerker erzählen bei Rundgängen, wie das Leben des ganzes Dorfes sich um das Kraftwerk drehte: der Fußballverein Turbine Vockerode, der Anglerverein, das Kulturhaus und der Waschstützpunkt für die vielen berufstätigen Frauen. Zweitgrößter Arbeitgeber war eine Gärtnerei, deren Gewächshäuser mit der Abwärme des Kraftwerks geheizt wurden.

Gerade die Gewächshäuser fand die Landschaftsarchitektin Heike Brückner, die am Bauhaus Dessau arbeitet, einen guten Punkt, um die Bildungsideen des alten Gartenreiches mit den Hinterlassenschaften der Industrialisierung zu verknüpfen. „Mit einer Schule für Gartenkunst, mit einer Lernwerkstatt für ökologischen Landbau und ökologischen Tourismus kann man den Modellcharakter des Parks aufgreifen und eine Nutzung der Brache, die der Abriss der Gewächshäuser hinterlassen hat, für die Zukunft entwickeln.“ Das Kraftwerk Vockerode sollte zum Tor in ein Gartenreich werden, das auch von den Folgen der Umweltzerstörung in der Industrialisierung erzählt. „Die Sprengung der Schornsteine“ sagt Heike Brückner, „ist eine Katastrophe und persönliche Niederlage.“ Mit dieser Einschätzung steht sie nicht allein: Karl Ganser, der Leiter der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, lehnte aus Protest gegen die Sprengung die Auszeichnung mit dem „Kulturgroschen“ des Deutschen Kulturrates ab.

Harald Kegler, der bis 1999 die Werkstatt Industrielles Gartenreich am Bauhaus Dessau leitete, befürchtet, dass ohne die Schornsteine die leer stehenden Hallen endgültig zum „toten Kapital“ werden. Schlimmstenfalls kommt ein Zaun drum herum und ein Hund bewacht das verfallende Gebäude. Dann haben alle verloren: die Gemeinde einen Standort, das Land eine Landmarke und das Weltkulturerbe Wörlitzer Park ein spannungsvolles Tor. Denn der Weg zum Park führt noch immer am Kraftwerk vorbei, ob der Besucher über die Autobahn braust oder auf dem von ABM-Kräften neu angelegten Radweg kommt, der die fürstlichen Gärten von Wörlitz und Dessau wieder verbindet.

Denn Kraftwerk und Autobahn zerschneiden die gestaltete Landschaft, die zwischen 1764 und 1800 entstanden war. Der Wörlitzer Park des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau bildet die Keimzelle der ideellen Verbindung von Natur und Technikgeschichte. Seine Bauwerke zitierten im kleinen Maßstab neben der Antike und dem Mittelalter auch die frühen Werke der Ingenieurbaukunst. Doch dieser Geschichte zum Trotz wollte sich die Kulturstiftung Dessau-Wörlitz nie mit der Idee vom „industriellen Gartenreich“ anfreunden. Sie empfanden das Kraftwerk schlicht als Störung und argumentierten lange, dass die Schornsteine ihre Chancen schmälerten, auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes zu kommen. Doch im November 2000 wurde der Wörlitzer Park als Flächendenkmal in die Liste aufgenommen.

Kurz darauf, Anfang 2001, stellte die Veag (Vereinigte Energiewerke AG) den Antrag auf den Abriss der Schornsteine. Bis dahin hatte sie sich als Besitzer des stillgelegten Kraftwerkes um Erhalt und Nachnutzungen bemüht. Sie unterstützten drei Ausstellungen, die mit großem finanziellen Aufwand im Kraftwerk eingerichtet wurden: zur Geschichte des Landes, zum Aufbau der Industrie und zuletzt zum „Weg der Kohle“ im Kraftwerk selbst. All das war als Anschub gemeint. In zwei Studien ließ die Veag Vorschläge für langfristige Projekte prüfen: einen Themenpark „Energie“ aufzubauen oder eine gläserne Fertigungsstrecke für Fertighäuser nach Vockerode zu holen. Futuristische Bilder entstanden von Häusern, die an ihren künftigen Standort geflogen werden. Doch teils kollidierten die Pläne mit dem Denkmalcharakter des Wörlitzer Parks oder konkurrierten mit Ferropolis und einem Open-Air-Theater in der Goitzsche, zwei anderen ehemaligen Industriestandorten, die in der Nähe schon für Events und Themenparks aufbereitet wurden.

Auch Rüdiger Schmidt, ehrenamtlicher Bürgermeister von Vockerode, sieht mit dem Fall der Schornsteine die Möglichkeiten sinken, für das alte Kraftwerksgebäude Investoren zu finden. Bis heute ist es zwar gelungen, in kleineren Nebengebäuden 15 neue Firmen anzusiedeln, aber alle Vorschläge für die große Halle scheiterten an den Bedingungen des Denkmalschutzes und der Finanzierung.

Der Abriss der Schornsteine wird jetzt mit mangelnder Standsicherheit begründet und den hohen Kosten des Erhalts. Lange hoffte die Veag auf das in dieser Situation notwendige Signal der Landesregierung, etwa in Form einer Stiftungsinitiative für Industriedenkmale. Es war dann eine Bürgerinitiative, die Unterschriften gegen die Sprengung sammelte; fast alle Besucher, die zum Wörlitzer Park wollten, waren für den Erhalt des historischen Zusammenhangs. Bitten an den Ministerpräsidenten Reinhard Höppner blieben aber vergeblich. Bürgermeister und Landräte sprachen sich gegen den Abriss aus. Sich so zur Vergangenheit zu bekennen, war auch in der Region nicht immer selbstverständlich. Harald Kegler allerdings hat erlebt, wie in den letzten zehn Jahren die Akzeptanz der Vorstellung, Industrie- und Kulturgeschichte zusammen zu denken, wuchs.

Doch dieser Idee, die das Bild der historischen Entwicklung und ihrer Widersprüche bewahren und mit neuen Projekten beleben möchte, wurde mit der Sprengung negativ begegnet. Der Eindruck bleibt, dass Antje Vollmers naive Maßstäbe des Schönen mehr Anhänger in der Politik haben, als sich dazu bekennen mögen. Die Entscheidungen im Land Sachsen-Anhalt passen zu diesem Befund.