„Wollt ihr wieder Krieg führen?“

Die Grünen können sich mitten im Berliner Wahlkampf zu den bevorstehenden Militärschlägen der USA auf keine Position einigen. Auf eine Resolution verzichten sie ganz

„Wir müssen beweisen, dass wir mit unseren Ideen gestalten können“, sagt Künast

Unter den Berliner Grünen herrscht die Angst des Torwarts beim Elfmeterschießen. Ausgerechnet in der heißen Phase des Wahlkampfes muss sich die Partei erneut die Gretchenfrage stellen lassen: Wie hält sie’s mit dem Militär? Die Furcht, einen Vergeltungsschlag der USA für die Terrorangriffe auf New York und Washington zumindest mitverantworten zu müssen, treibt den grünen Landesverband seit zwei Wochen um. Die grüne Bundestagsfraktion hat den Amerikanern ihre „bedingungslose Solidarität“ versichert, also Solidarität ohne Bedingungen. Was daraus folgen kann, weiß derzeit niemand.

Ein Treffen des grünen Landesausschusses mit der Bundestagsfraktionschefin Kerstin Müller soll an diesem Mittwochabend im Rathaus Schöneberg der „ungeheuren inneren Beklemmung“, die nicht nur der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele anmeldet, ein Forum bieten. Vor allem aber muss sich der Landesverband für den Wahlkampf positionieren. „Was sollen wir den Leuten sagen?“, will Günther Huber vom Kreisverband Kreuzberg wissen. Fraktionschefin Müller bringt zum Auftakt noch einmal die Ratlosigkeit zum Ausdruck, die derzeit nicht nur die Grünen befallen hat: „Wir müssen eine Antwort darauf finden, was unsere Antwort auf den Terrorismus ist.“ Für Kerstin Müller lautet diese Antwort eindeutig: Zustimmung zu einem Militärschlag der USA.

„Begrenzte und zielgerichtete militärische Aktionen der USA sind legitim, das ist doch glasklar“, klärt sie ihre Zuhörer auf. Zur Begründung dient der Spitzenpolitikerin Artikel 51 der UN-Charta, der das Recht auf Selbstverteidigung gegen einen Angriff garantiert, sowie die entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates. Diese müssten auch in der jetzigen Krise der Maßstab grüner Politik bleiben, beschwört Kerstin Müller die Versammlung. Es sei die große Chance der Grünen in der Regierung, sagt sie, Einfluss auf die USA zu nehmen. Und sie versteigt sich sogar dazu, in der aktuellen Situation „eine historische Chance“ für ein globales Bündnis zu sehen. Einem Zwischenrufer, der das katastrophale Wahlergebnis von Hamburg am vergangenen Wochenende mit der Militärpolitik erklärt, bescheidet Kerstin Müller gereizt: „Sind 18.000 Wähler zur SPD gegangen, weil wir nicht linksradikal genug sind?“ Als sie Christian Ströbele wegen seines Neins zur unbedingten Solidarität mit den USA angreift, erntet dieser spontan Beifall. Immer wieder gibt es Unmutsbekundungen.

Dann beginnen die Fragen. Zwar herrscht die übereinstimmende Ansicht, dass die Täter „nicht von einem Kontaktbereichsbeamten“ zur Rechenschaft gezogen werden könnten, wie das Gründungsmitglied der Alternativen Liste, Michael Wendt, es formuliert.

Wer aber sind die Täter? Wo halten sie sich auf? Lassen sich mit B 52-Bombern, die in den Mittleren Osten verlegt worden sind, die vielfach geforderten zielgerichteten militärischen Eingriffe durchführen? Wo endet die von den UN garantierte Notwehr, wo beginnt die Vergeltung, die das Völkerrecht nicht vorsieht? Sind Zelte in Afghanistan eine militärische Infrastruktur, deren Zerstörung sich lohnt? Es ist der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele, der in einem erregten Redebeitrag diese Sorgen auf den Punkt bringt. Vor allem befürchtet Ströbele die Einflusslosigkeit des Bundestages auf die Art und Ausprägung der Militärschläge. „Wollt ihr wieder Krieg führen wie im Kosovo?“, ruft er aus. Die Konsequenzen dieser Haltung sind auch ihm klar: „Es gibt Wichtigeres als eine Koalition, nämlich die Frage, ob man sich an einem Krieg beteiligt.“

Doch für viele gibt es an diesem Abend noch Wichtigeres, nämlich die Frage, ob die Grünen einen Bruch des Regierungsbündnisses politisch überleben würden. In jedem Beitrag ist diese Furcht greifbar. „Die Konsequenz wäre, dass wir uns aus der politischen Landschaft der Bundesrepublik verabschieden“, warnt der Abgeordnete Jochen Esser. Die Bundestagsabgeordnete und ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer hält Christian Ströbele entgegen, dass er gerade mit einem Bruch der Koalition auf jeglichen Einfluss verzichte: „Du kannst dann in Zukunft auf der Straße demonstrieren.“

Auf die Folgen eines Verschwindens der Grünen weisen auch Verbraucherschutzministerin Renate Künast und Justizsenator Wolfgang Wieland hin. Sie müssen die Paradoxie erklären, dass die Grünen Krieg führen müssen, um Krieg zu verhindern; dass sie die Aufrüstung des Sicherheitsapparates abnicken müssen, um die Aufrüstung des Sicherheitsapparates zu verhindern. „Wir müssen in diesen schwierigen Zeiten beweisen, dass wir mit unseren Ideen gestalten können, sonst gibt es einen Backlash, der sich gewaschen hat“, warnt Renate Künast. Eine „innere Aufrüstung“, die nicht aus der Opposition aufzuhalten sei, beschwört der Berliner Wieland.

Zur Linderung der politischen Existenzängste vieler Teilnehmer trägt der Abend dennoch nicht bei. Der Versuch, eine Resolution zu verabschieden, scheitert am Widerstand von Andrea Fischer und anderen, die vor Schnellschüssen warnen, aber nicht vor Schüssen des Militärs, wie es der Entwurf des Landesvorstandes von diesem Abend vorsieht. In diesem Papier wird unter anderem eine Beteiligung der Bundeswehr an einem Militärschlag abgelehnt. Andrea Fischer lehnt ihre Zustimmung dazu ab.

„Was sollen wir den Leuten sagen?“, will einer vom Kreisverband Kreuzberg wissen

Beschlussfähig ist der Landesausschuss am späten Abend ohnehin nicht mehr. Aus der Positionierung für den Berliner Wahlkampf ist nichts geworden. Fluchtartig greifen die Delegierten zu ihren Sachen und brechen auf. Es ist der US-Präsident George Walker Bush, der nicht nur die Berliner Grünen an diesem Abend hoffen lassen kann, noch einmal mit zwei blauen Augen davonzukommen: Die US-Administration teilt mit, auf die Ausrufung des Bündnisfalles in der Nato zu verzichten. Sie ziehen vorerst allein in den Krieg.

ANDREAS SPANNBAUER