„Meinen Sie, ich will in den Krieg ziehen?“

Wenn wir den Terror jetzt nicht besiegen, wird er unseren Alltag bestimmen. Das kann keiner wollen

Interview JENS KÖNIG
und PATRIK SCHWARZ

taz: Herr Fischer, hat Gerhard Schröder Ihnen schon einen Mitgliedsantrag der SPD zugesteckt?

Joschka Fischer: Vergessen Sie’s. Ich bin ein Grüner. Jeder Versuch, mir eine andere Parteimitgliedschaft anzudienen, ist aussichtslos. Es hat diesen Versuch im übrigen auch nicht gegeben.

Sie lieben Ihre Partei über alles?

Ich liebe meine Frau, nicht meine Partei. Aber gerade jetzt, in diesen schwierigen Zeiten, merke ich, wie sehr ich an unserem gemeinsamen Laden hänge, vor allem emotional. Ich werde alles dafür tun, dass wir Grünen die große Herausforderung, vor der wir stehen, gemeinsam meistern.

Sie hängen so sehr an Ihrer Partei, dass Sie mit ihr zur Not auch in die Opposition gehen würden?

Darum geht es doch nicht, sondern um die Fortsetzung von Rot-Grün. Ich habe auf allen Seiten der Koalition in den letzten Tagen den festen Willen zur Gemeinsamkeit gespürt. Sie können also davon ausgehen, dass sich Ihre Frage schlicht und einfach nicht stellt.

Sie schließen eine Große Koalition aus?

Das sind so Journalistenfragen . . .

Wir sind Journalisten.

Ja, sicher, aber das macht Ihre Fragen nicht besser. Was kann man im Leben schon ausschließen? Sicher ist nur der Tod.

Und eine Große Koalition?

Also, damit Sie es schwarz auf weiß haben: Ich schließe eine Große Koalition für die vor uns liegende Zeit aus. Die rot-grüne Regierung hat einen klaren Wählerauftrag, und den wird sie erfüllen. Die Sozialdemokraten wollen das, die Grünen wollen das – wohl wissend, vor welchen schwierigen Herausforderungen die Bundesrepublik steht. Und damit Sie sich die nächste Nachfrage gleich sparen können: Ich schließe auch jede andere Koalition aus.

Wir wollten in dem Interview wenigstens einmal Westerwelle unterbringen.

Bitte schön. Der Guido bleibt Oppositionsführer.

Wie wollen Sie denn mit einer Partei weiterregieren, die es ablehnt, in einen Krieg zu ziehen?

Meinen Sie, ich will in den Krieg ziehen? Meinen Sie, die Deutschen wollen das? Oder die Menschen in New York? In den USA? Durch diesen furchtbaren Terroranschlag ist uns etwas aufgezwungen worden, dem wir uns stellen müssen. Man kann sich die Herausforderungen in der Politik leider nicht aussuchen. Man kann fordern, die Welt müsse eine andere sein. Aber das können wir als rot-grüne Regierung nicht bieten. Das können nur höhere Mächte als wir.

Die Frage ist doch, ob jetzt auch die Grünen glauben, dass man den Terrorismus durch eine internationale Militärstreitmacht bekämpfen kann.

Sie glauben, die Gefahren, die von diesem Terrorismus ausgehen, lassen sich durch strikt gewaltfreie Reaktionen begrenzen und aus der Welt schaffen? Wenn das ginge, dann wäre ich auch dafür. Das ist doch der Kern des ganzen Problems: Dieser bewusst mit Massenmord an Zivilisten kalkulierende Terrorismus muss politisch und ökonomisch, aber auch mit den gebotenen militärischen Mitteln bekämpft werden.

Besteht nicht die Gefahr, dass diese militärischen Mittel eine politische Strategie gefährden?

Nein. Die USA sind dabei, mit diplomatischen Mitteln eine internationale Koalition zu schmieden. Sie schaffen damit die Voraussetzungen für eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus. Das ist für die künftigen internationalen Beziehungen von großer Bedeutung. Aber natürlich wäre es ein Irrtum zu glauben, die USA könnten in New York und in ihrer Hauptstadt angegriffen werden, ohne dass das militärische Konsequenzen hätte. Es wäre zudem ein gefährlich falsches Signal an die Terroristen.

Es gibt kein Recht auf Vergeltung.

Aber die USA haben das Recht zur Selbstverteidigung. Sie können sich hierbei nicht nur auf die UN-Charta berufen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am Tag nach den Anschlägen eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit festgestellt. Er hat dabei das Recht auf kollektive und individuelle Selbstverteidigung unterstrichen.

Sie befürchten nicht, dass es am Ende mehr Terror gibt als vorher?

Natürlich verstehe ich die Angst vieler Menschen vor einem Krieg. Ich teile sie. Aber die Angst darf uns nicht passiv machen. Wenn wir den Terror jetzt nicht besiegen, dann wird er unseren Alltag bestimmen.

Das Problem des Terrorismus ist doch viel komplexer. Muss die Politik nicht endlich auch die Folgen der Globalisierung ernst nehmen?

Ich war immer schon der Ansicht, dass Politik im 21. Jahrhundert multilaterale Ordnungspolitik sein muss. Die heutige Vielfalt auf dem Globus lässt sich nicht von irgendeiner Zentrale steuern, das wäre gewissermaßen ein unilaterales Missverständnis. Aber wir dürfen auch nicht Konflikte zu globalen Brandherden werden lassen. Unter den hoch gefährlichen Zonen der Ordnungslosigkeit in Sierra Leone, am Kongo oder in Afghanistan hat doch am meisten und auf furchtbare Weise die Bevölkerung zu leiden.

Aber gerade das Beispiel Afghanistan zeigt doch, dass der Westen erst dann Anteil nimmt, wenn seine eigenen Interessen gefährdet scheinen.

Unbestritten gibt es eine unterschiedliche Aufmerksamkeit. Wenn die Gewalt aus Algerien nach Europa geschwappt wäre, dann hätte man sich hier ganz anders damit beschäftigt. Deshalb weckt ja oft erst ein gewaltsamer Zentralkonflikt weltweit das Bewusstsein dafür, dass man einen neuen Ordnungsrahmen braucht. Uns droht nach den Anschlägen auf die USA eine globale Kultur der Angst, wobei der Begriff „Kultur“ hier vielleicht unangemessen ist. Deshalb kommt den reformierten Vereinten Nationen im Rahmen einer politischen Globalisierung eine besondere Bedeutung zu.

Gehört Terrorismus also gar nicht zu den dunklen Seiten der Globalisierung?

Das wäre zu einfach. Nehmen Sie die großartige Welt der islamischen Kultur. Der Terrorismus ist nicht deren integraler Bestandteil. Er ist vielmehr Ausdruck einer Modernisierungsblockade in vielen islamischen Ländern. Gewiss gibt es auch starke Einflussfaktoren von außen. Einer der Zentralkonflikte in diesem Zusammenhang findet im Nahen Osten statt. Es ist eine Leistung der rot-grünen Regierung, dass Deutschland gerade dort die Last seiner Geschichte in produktive Politik umsetzen konnte.

Ihre Partei hat ein gespaltenes Verhältnis zu den USA. Warum tun Sie plötzlich so, als seien die Grünen schon immer die natürlichen Verbündeten der USA gewesen?

Ich habe in meinem politischen Leben die USA immer wieder kritisiert, ob das jetzt Vietnam betraf oder Chile. Gewiss darf man auch fragen: Ist die Klimapolitik der USA richtig? Braucht die Welt ein neues Raketenabwehrsystem? Wie steht es um ihr Verhältnis zu den Vereinten Nationen? Aber bei allen einzelnen Kritikpunkten an den USA – das rechtfertigt niemals diesen menschenverachtenden Terror. Niemals!

Niemand rechtfertigt das.

Die USA sind angegriffen worden, und wir müssen entscheiden, ob wir uns auf ihre Seite stellen. Die Grünen können sagen, wir wollen das nicht. Das hätte dann nur Konsequenzen für die Partei und die Koalition. Aber Deutschland kann und darf das nicht sagen.

Wieso nicht?

Es wäre ein historischer Fehler. Wir würden eine Linie von 50 Jahren Westintegration abbrechen, die von Adenauer über Brandt bis zu Schröder reicht. In den USA würde niemand verstehen, wenn wir uns heraushalten würden. Dort sagen die Menschen: Wir haben 50 Jahre lang den Kopf für euch hingehalten, jetzt tut ihr etwas für uns.

Die Mehrheit Ihrer Partei, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung übt diese Solidarität mit den Amerikanern – und lehnt eine Beteiligung der Bundeswehr an Militärschlägen trotzdem ab.

Ich weiß das. Ich rede da überhaupt nicht drum rum: Sogar meine Kernwählerschaft, treue Fischer-Anhänger . . .

Die gibt’s noch?

Jede Menge. Aber selbst die sehen das zu Teilen anders als ich. Zum ersten Mal habe ich also einen richtigen inhaltlich, aber auch emotional begründeten Widerspruch zwischen meiner Position und der Haltung nennenswerter Teile meiner Wählerschaft.

Sollten Sie nicht umdenken?

Ich war schon immer ein Dickschädel. Was die Mehrheit denkt, ist für mich als gewählten Vertreter ein wichtiges Argument. Aber ich habe mir immer meinen eigenen Kopf erlaubt. Deshalb bin ich auch bei den Grünen und in keiner anderen Partei. Mich gibt’s ohne meinen Dickschädel nicht.

Die grüne Basis liebt ihren Joschka – aber sie versteht ihn nicht mehr.

Laut einer Umfrage lehnen 70 Prozent der Grünen-Anhänger militärische Kampfeinsätze ab, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Und gleichzeitig wollen über 60 Prozent, dass die rot-grüne Koalition fortgeführt wird. Das ist der Widerspruch, den der Herr uns aufgibt.

Sie fordern himmlischen Beistand?

Aber nein.

Ihr Dickschädel fordert von den Deutschen uneingeschränkte Solidarität mit den Amerikanern. Aber die Bürger sehnen sich nach Politikern, die Nachdenklichkeit und Zweifel zulassen.

Ich kann die Zweifel nachvollziehen. Aber man muss auch zuhören, was der Bundeskanzler gesagt hat: Zu Risiken, auch im Militärischen, sei Deutschland bereit, zu Abenteuern nicht. Der ganze Satz ist wichtig, nicht nur der erste Teil.

Aber wo ist die Grenze zwischen Solidarität und Abenteuer?

Diese Grenze ist schwierig zu ziehen. Das wird den deutschen Bundestag fordern, wenn er mit einer Entscheidung konfrontiert werden sollte. Für diese Unterscheidung von Solidarität und militärischem Abenteuer gibt es keine vorgefertigten Maßstäbe. Ich kann nur die Größe der Herausforderung, die Prinzipien und die deutschen Interessen dabei beschreiben. Ich kann nur meine Sicht als Außenminister darstellen. Aber ich würde das meiner Partei genauso sagen, wenn wir in der Opposition wären.

Fällt den Deutschen die Unterstützung nicht auch deshalb schwer, weil die Solidarität so einseitig ausfällt? Die Amerikaner lassen uns im Dunkeln über ihre Pläne.

Nach den Anschlägen hieß es doch bei vielen hier in Deutschland abschätzig, die USA würden binnen 24 Stunden losschlagen. Inzwischen loben selbst Kritiker der USA, dass sich die Regierung von George Bush klug und abwägend verhält.

Aber was die Pläne der USA betrifft, sind Sie mit leeren Händen aus Washington zurückgekommen. Selbst Sie als Außenminister wissen offenbar nicht mehr als in der Zeitung steht.

Das ist Ihre Schlussfolgerung. Im Übrigen steht bisher keine Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an – auch wenn ich in vielen Zeitungen Spekulationen über Spekulationen lese.

Das heißt, Sie wissen, ob Afghanistan bombardiert wird?

Ich werde mich an solchen Spekulationen nicht beteiligen. Wichtig ist jetzt, auf das Kalkül der Terroristen nicht hereinzufallen: Sie wollten nicht nur eine Supermacht demütigen, sondern auch einen Kampf der Kulturen anzetteln. Sie haben Amerika und uns den Krieg erklärt. Nicht anders herum.

Sitzen wir durch die Rhetorik der ersten Tage nicht bereits in einer Eskalationsfalle? Schröder sprach von einer Kriegserklärung an die gesamte zivilisierte Welt.

Der Schock der ersten Tage wurde doch nicht durch die Rhetorik ausgelöst, sondern durch die grausamen Bilder. Jeder hatte plötzlich das Gefühl, der Terror könnte auch einen selbst treffen.

Es gibt also eine Sehnsucht danach, diesem grausamen Bild der Zerstörung ein emotional ebenso starkes Bild entgegenzusetzen?

Wir haben es hier nicht mit einer schwarzen Magie der Bilder zu tun, sondern mit einem realen Terroranschlag. Das ist kein Krieg der Zivilisationen, aber natürlich steht hinter dem Konflikt eine Konfrontation der Werte. Zivilisation bezeichnet doch nicht den Westen. Zivilisation ist ein normativer Grundkanon für menschliches Zusammenleben. Die Anschläge auf die USA stellen diesen Grundkanon radikal in Frage. Deshalb sind sie eine totalitäre Herausforderung. Ich hätte mir gewünscht, dass sie unserer Generation erspart geblieben wäre. Aber nun ist diese Herausforderung da, und wir müssen sie bewältigen. Diese Konfrontation der Werte darf allerdings nicht dazu führen, dass wir unsere eigenen Grundwerte aufgeben.

Aber tun Sie das nicht gerade? Sie kommen aus einer Generation, die seit 30 Jahren einen Diskurs darüber führt, dass man auf Bedrohungen nicht mit Armeen und Bomben reagieren darf. Und heute legitimieren Sie genau diese militärischen Mittel.

Ich komme aus einer Generation, die den Vietcong unterstützt hat. Der zeichnete sich nicht gerade durch friedliche Schweigekreise aus. Ich komme aus einer Generation, die begrüßt hat, dass ein Batista in Kuba und andere mittelamerikanische Diktatoren unter Einsatz von Gewalt gestürzt worden sind. Ich komme aus einer Generation, die es legitim fand, Waffen für die Rebellen von El Salvador zu sammeln.

Ihre Generation ist aber auch dadurch geprägt, dass sie gewaltfrei geworden ist.

Natürlich, und zwar durch persönliche Erfahrungen. Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit gescheiterten Befreiungsbewegungen. Nur ein Beispiel: Das Desaster der nationalrevolutionären Bewegung in Algerien ist ein Teil der Ursachen für die heutige Katastrophe. Seit 1992 sind hunderttausend Menschen durch den islamischen Fundamentalismus und die staatliche Gegengewalt massakriert worden. Zur Erfahrung meiner Generation gehört also nicht nur die Bonner Hofgartenwiese.

Und warum zerreißt es trotz dieser langjährigen Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage die Grünen jedesmal, wenn es um Krieg und Frieden geht?

Die Grünen wären nicht die Grünen, wenn sie bei dieser Grundfrage nicht immer wieder harte, quälende Auseinandersetzungen führen würden. Aber für mich als Außenminister wird immer das Interesse Deutschlands an erster Stelle stehen.

Soll das eine Drohung an Ihre Partei sein?

Nein, ausdrücklich nicht. Ich meine damit die Verpflichtung, die sich aus meinem Amtseid ergibt, und diese Verpflichtung nehme ich sehr ernst. Anders kann eine Demokratie nicht funktionieren. Aber natürlich schlägt mein Herz auch auf der Seite derjenigen, die sich immer wieder diese eine Frage stellen: Gibt es zu diesem Töten und Morden, gibt es zur Gewalt nicht doch bessere Alternativen?

Das soll die Aufgabe der Grünen sein: Immer wieder diese Frage zu stellen?

Ja. Wer soll es denn sonst tun? Die PDS? Die betreibt doch nur einen opportunistischen Pazifismus. Die Auseinandersetzung der Grünen, so ermüdend sie oft auch sein mag, ist für das ganze Land wichtig.

Die Wähler sehen das offenbar anders.

Natürlich macht die selbstquälerische, differenzierte Debatte der Grünen einen Teil des Problems aus, das wir in der öffentlichen Wahrnehmung haben. Aber wenn es hart auf hart kommt, profitieren wir davon auch wieder. Bei der Bundestagswahl werden die Grünen zulegen.

Wie bitte? Sie haben 16 Landtagswahlen hintereinander verloren.

Wir haben den Wandel von einer Protest- zu einer Reformpartei immer noch nicht abgeschlossen. Wir verlieren auf der einen Seite, gewinnen aber auf der anderen Seite nicht ausreichend Wähler hinzu. Aber bei der Bundestagswahl wird die Alternative zugespitzt sein: Hier das rot-grüne Lager, das für gesellschaftliche Modernisierung steht, dort die Stoiber-Union und Westerwelles FDP.

Aber das hilft den Grünen nicht, wenn sie nur nachdenkliche Fragen stellen. Ihre Partei sitzt in der Regierung, sie muss realpolitisch handeln.

Die Grünen sind doch nicht nur wegen ihrer Zweifel gefragt. Wir stehen jetzt am Beginn der politischen Gestaltung der Globalisierung. Da wird die Stimme der Grünen gebraucht. Konfliktprävention, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit in der internationalen Politik – alles grüne Themen. Die Ängste, die die terroristische Gefahr auslöst, plus der Populismus eines Schill – das wirft die Frage nach der inneren Freiheit auf. Dafür sind die Grünen unverzichtbar.

Wenn man Otto Schily so sieht, hat man nicht den Eindruck, dass die Grünen bei der inneren Sicherheit besonders viele Punkte machen können.

Die Grünen nehmen die Sicherheitsbedürfnisse der Bürger ernst. Wir können den Herausfoderungen des Terrorismus nicht mit einer passiven Haltung begegnen. Über Vorschläge, die die Sicherheit tatsächlich erhöhen, kann Otto Schily mit uns reden.

So einfach ist das?

Gerade jetzt, in diesen schwierigen Zeiten, merke ich, wie sehr ich an unserem gemeinsamen Laden hänge

So schwierig. Auch unter diesen komplizierten Bedingungen müssen wir weiter unsere Kernanliegen formulieren: eine offene Bürgergesellschaft, eine multikulturelle Gesellschaft – ich habe den Begriff „multikulturell“ für mich nie verabschiedet –, die Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Da müssen wir uns jetzt bewähren. Nicht mit schönen, klaren Lösungen, die nur auf dem Papier stehen, sondern in einem zähen Abwehrkampf.

Ihr Freund Daniel Cohn-Bendit fordert eine klare Abgrenzung der Grünen – von der SPD, aber wenn es Not tut, auch vom grünen Außenminister.

Ja, das beherrscht der Dany, heute Abgrenzung und morgen wieder Solidarität. Mal haut er dir auf die Backen, dass es nur so klatscht, und dann umarmt er dich wieder, dass du fast zu Tränen gerührt bist. Wenn das die ganze Partei so hinbekäme, dann ginge es mir prächtig.

Cohn-Bendit geht es um eine politische Strategie der Differenz zur SPD.

Wenn Differenz unterschiedliche Ansätze meint, okay. Aber eine grundlegend andere Politik als die der Koalition hielte ich für falsch. Bei allem Visionären – die Verbindung zur Realität muss bestehen bleiben. Wir sollten keine utopischen Forderungen stellen.

Cohn-Bendit sagt, die Grünen müssten jetzt den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie fordern – weil die Atomkraftwerke angesichts des Terrors die größte Bedrohung für die Sicherheit der Bürger darstellen. Ist das utopisch?

Die Grünen sollten diese Debatte führen – aber nicht aus dem Stand. Wir dürfen den ohnehin großen Ängsten in der Bevölkerung nicht neue hinzufügen, ohne nicht praktische und machbare Antworten präsentieren zu können.

Warum so zögerlich?

Ich bin nun wirklich der Letzte, der da zögerlich wäre. Als wir seinerzeit in Hessen bei der Auseinandersetzung um das AKW Biblis nach Flugzeugabstürzen fragten, hieß es immer: „vernachlässigbares Restrisiko“. Heute denkt selbst Roland Koch anders darüber. Als hessischer Umweltminister habe ich die Plutoniumfabrik in Hanau stillgelegt. 0.3 Millimeter dünnes Aluminiumtrapezblech – mehr an Schutz gab’s da nicht!

Also gehen die Grünen noch mal an den Atomausstieg ran?

Eine Schockabschaltung von jetzt auf nachher hätte massive negative Konsequenzen, da muss man eine Risikoabwägung vornehmen.

Der Kanzler und Sie als Außenminister sind auf nichts so sehr angewiesen wie auf das Vertrauen der Bevölkerung. Aber die hat den Eindruck, die Regierung trickst. Sie behaupten immer wieder, eine Entscheidung über eine Beteiligung deutscher Soldaten sei noch nicht gefallen. Dabei haben Sie den Bundestag einen Beschluss fassen lassen, in dem Deutschland den USA militärische Unterstützung zusichert.

Erstens lässt die Regierung das Parlament keine Beschlüsse fassen. Der Bundestag ist ein souveränes Haus. Und zweitens wurde da nicht getrickst.

Über die Frage der militärischen Unterstützung wurde im Bundestag nicht debattiert.

Alle Bundestagsfraktionen haben über den Antrag gemeinsam beraten und anschließend abgestimmt. Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass uneingeschränkte Solidarität mit den USA auch die Bereitschaft zu einer militärischen Unterstützung einschließt. Da nützt kein Drumherumreden. Im Übrigen hätte ich ohne diese Zusage des Bundeskanzlers gar nicht in die USA fahren brauchen.

Sie sagen selbst, dass die Grünen eine Adresse für das Unbehagen in der Bevölkerung sind. Warum durfte dann bis heute kein grüner Gegner von Militäreinsätzen im Plenum des Bundestages reden?

Ich bitte Sie. Keine Partei debattiert so offen über diese Frage wie wir. Viele Abgeordnete der Grünen haben sich öffentlich geäußert.

Aber nicht im Bundestag.

Noch mal: Es wird keine Entscheidung der Bundesregierung am Parlament vorbei geben.

Es gibt bei den Grünen die Befürchtung, die Bundesregierung werde das Parlament erst nachträglich um Zustimmung zu einem möglichen Bundeswehreinsatz bitten. Ist diese Befürchtung berechtigt?

Nein. Wir haben eine eindeutige Verfassungslage.

Es ist also möglich, dass die Abgeordneten erst morgens aus dem Radio erfahren, dass die Bundesregierung deutsche Soldaten in einen Kampfeinsatz geschickt hat?

Genau das soll nicht passieren. Es gibt eine Verfassung – und ich möchte da keine weitere spekulative Diskussion führen. Diese Verfahrensdebatte führt nicht weiter, solange wir keine konkrete Entscheidung zu treffen haben.

Begonnen hat diese Debatte der Verteidigungsminister. Rudolf Scharping hat erklärt, bei „Gefahr im Verzug“ sei ein Einsatz ohne Parlamentsauftrag erlaubt.

Ich halte das für die falsche Diskussion zum falschen Zeitpunkt.

Warum schenken Sie den Deutschen nicht reinen Wein ein?

Ich schenke der deutschen Bevölkerung sehr reinen Wein ein.