Die Renaissance des Bösen

Das Killerkommando, das es auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington abgesehen hatte, provozierte nicht nur in den USA die Idee, man befände sich in einem Krieg – und der Gegner sei das Böse schlechthin. Doch was bedeutet es – das Böse? Steht es für ein Unbehagen an der suspendierten Zivilisation schlechthin? Oder artikuliert es eine Gewalt, die wir als eigene wiedererkennen? Überlegungen

von CHRISTIAN SCHNEIDER

„Das Böse zeigte seine Fratze um exakt acht Uhr und 42 Minuten Ortszeit – mitten in New York.“ So präzise, mit Zeit- und Ortsangabe, weiß es der für Finanzen zuständige Ableger des zweitgrößten deutschen Nachrichtenmagazins. „Das Böse“ hat also wieder einmal zugeschlagen. So, wie wir’s von ihm gewöhnt sind. Plötzlich, tückisch, hinterrücks. Ohne Gesicht, aber mit Fratze.

Die Anschläge in New York und Washington hinterlassen bei uns Zustände von Unsicherheit, Verwirrung und Angst, wie wir es seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Die überall aufkommende Rede von „dem Bösen“, mit dem wir konfrontiert seien, ist der beste Indikator dafür. Denn was am 11. September in den USA geschehen ist, ist alles andere als ein metaphysischer Unglücksfall, sondern ein kalt geplantes Verbrechen, ein manmade disaster.

Und trotzdem – seit diesem Datum ist das Böse so im Auf- wie die Börse im Abschwung. Es hat sich unbemerkt in die öffentliche Rede eingeschlichen. Und viele sprechen von ihm mittlerweile so, als stünde es ihnen leibhaftig gegenüber. „Nichts wird mehr so sein wie früher“, rufen wir fassungslos – und meinen damit wohl, dass eine Grenze überschritten worden ist, die uns – den Westen – bislang vor der Zumutung allgegenwärtiger Gewalt geschützt hat.

Es ist etwas in unsere gehegte Binnenwelt gedrungen, von dem wir meinten, es historisch hinter uns gelassen oder wenigstens geografisch an den Rand gedrängt zu haben. Und das Beunruhigende ist: Wir wissen nicht so recht, wer es ist, der uns so brutal aus der Illusion der Sicherheit gerissen hat. Die Rede von dem Bösen, die derzeit durch die Medien und Verlautbarungen geistert, indiziert eine kollektive psychische Verfassung, die man als „metaphysische Regression“ bezeichnen könnte.

Die Grenze zwischen äußerer und innerer Sicherheit schwindet“, sagen die Politiker, wenn sie das Problem in seinen Konsequenzen nüchtern betrachten – und machen mit dieser sicherheitspolitischen Aussage unbeabsichtigt eine fundamentale psychologische Aussage über unsere innere Repräsentanz des Bösen. Denn genau das ist sein Urbild: dass es über uns hereinbricht, die Dämme überspült, in unsere innere Welt eindringt.

Es draußen zu halten ist die zentrale, die wichtigste Aufgabe der Zivilisation. Wobei sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Vermutungen über seinen Ursprung und damit die Methoden seiner Bewältigung und die Strategien des containment, der Eindämmung, verändert haben.

Solange die Beherrschung der äußeren Natur noch ein kaum oder nur unzureichend lösbares Problem darstellte, war sie, wenn sie uns die kalte Schulter zeigte, der Inbegriff des Bösen.

Als animistisch aufgeladener, mit einem eigenen Willen gedachter „Gegenspieler“ verfügt das naturhaft Böse über eine andere Qualität als die der stummen, unbeseelten Macht, vor der wir heute den Respekt weitgehend verloren haben. Die technisch unterworfene Natur taugt, selbst wenn sie sich im Ausnahmezustand der Katastrophe darbietet, längst nicht mehr als Sitz des Bösen. Je mehr es gelang, sie zu entzaubern, desto deutlicher verlagerte sich das Problem des Bösen ins Anthropologisch-Allgemeine.

Alle Bemühungen, es zu rationalisieren, haben – spätestens seit der Aufklärung – ihre Wurzel in der Intuition, in dem Gefühl, dass es in uns selber ist. Wäre es anders, so fiele eine grundlegende kulturstiftende Annahme der christlich-abendländischen Tradition, nämlich die Unterstellung einer uns behütenden, zuverlässig guten Instanz, in sich zusammen. „Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk“, heißt es in Kants Schrift „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. Seither sind das Böse und die menschliche Freiheit innig miteinander verbunden. Nichts kann böse sein, „als was unsere eigene That ist“.

Das Böse draußen zu halten: Das ist nicht nur fürs Menschengeschlecht, es ist von Geburt an die lebenslängliche Not jeden Individuums. Tatsächlich, das Böse ist genau genommen eine Kinderidee. Umfassende Realität besitzt es nur im infantilen Leben als Gegenstand unserer frühesten Ängste, die, wenn sie keine Linderung finden, so vernichtend total sind, dass sie jenseits der persönlichen Zuschreibbarkeit stehen.

Der untilgbare Rest unserer infantilen Erfahrung ist, dass wir einen bösartigen, aber nicht individuierten Gegenspieler besitzen, dessen einzige Aufgabe darin zu bestehen scheint, uns zu schaden: uns die Nahrung wegzufressen, uns den Schutz zu entziehen, unsere Blöße zu suchen und in uns einzudringen, um uns zu vernichten oder von innen her zu beherrschen.

Die Kernvorstellung alles Bösen bildet sich entwicklungsgeschichtlich an der Grenze zwischen innen und außen, zwischen dem menschlichen Körper und der Welt – in dem Moment, wo diese Grenze sich überhaupt erst zu bilden beginnt. Das Böse ist das, was diese zarte Grenzlinie verletzt und damit den Binnenraum, den „Container“ aufbricht, aus dem sich unser Selbst bildet. Ein Feind mag böse sein und uns nach dem Leben trachten, das Böse stellt die Grundorganisation unseres Lebens infrage. Es ist ein Gegenprinzip.

Weshalb es eigentlich keinen legitimen Platz im politischen Diskurs hat, in dem es letztlich immer um die Bestimmung von Freund und Feind geht. Die genuinen Spielfelder des Bösen der postinfantilen Zeit sind Theologie und Metaphysik. Umso bemerkenswerter, dass es uns jetzt auf der Ebene der Politik einzuholen scheint. Es zeigt, wie stark die Erschütterung ist, die der Anschlag vom 11. September in uns ausgelöst hat. Und es zeigt die neuen Gefahren, die sich aus der Veränderung der Weltlage ergeben haben. Erst jetzt nämlich wird deutlich, welch ungeheure psychologische Entlastung die manichäische Spaltung (beispielsweise: eine Teilung in Schwarz und Weiß – nicht eine Differenzierung mit Grautönen) der Welt zur Zeit des Kalten Kriegs bedeutet hat.

Auch damals bedienten sich manche einer vollmundigen quasireligiösen Sprache. Unvergessen Ronald Reagans Spruch vom „Reich des Bösen“, der den unaufhebbaren prinzipiellen Abstand zwischen den Blöcken kennzeichnen sollte. Aber er traf auf klare Verhältnisse. Es war eindeutig, wer gemeint war. Es ging um einen Feind, der in bestimmten Phasen dämonisiert wurde, aber nie den Rahmen des Politischen sprengte.

Heute sind die Verhältnisse anders. Wir wissen zwar immer noch, wo die Guten sitzen. Aber es sind uns die eindeutig identifizierbaren Gegenspieler abhanden gekommen. Seit der Auflösung der Blöcke gibt es eine Zerstreuung, ja, ein vages Verschwinden des Bösen, dessen Folgen uns jetzt mit dem furchtbaren, scheinbar aus dem Nichts kommenden Anschlag endgültig erreicht hat.

Sie beraubt uns der einfachsten Strategie, mit ihm umzugehen. Denn das Böse in Gestalt des Antagonisten, das Böse als der Andere, ist leichter zu ertragen als das „Ungreifbare“ des nicht Personifikationsfähigen: Diesem Bösen ist kein Gesicht zu geben. Lässt jenes sich zur eindeutigen Gestalt des Feindes rationalisieren, so verbleibt das Böse als das Andere in der ewigen Zweideutigkeit des Unbestimmten. Seine psychologische Repräsentanz ist nicht der Feind, sondern der Fremde. Wie wir mit dem und den Fremden umgehen, ist das Grundmodell unseres Umgangs mit dem Bösen.

Kein Zufall, dass die öffentliche politische Debatte über die Folgen des Terroranschlags wie magisch immer wieder auf zwei Punkte hinausläuft, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenzuhängen scheinen: Die Frage des Verteidigungsfalls – und das Problem der Zuwanderung. Es sind die beiden Felder, in denen wir versuchen können, das Böse in rationalen politischen Strategien unterzubringen.

Im ersten Fall wird der Wunsch nach Eindeutigkeit verhandelt, im zweiten geht es darum, wie die Bedrohung durch die Zweideutigkeit des Fremden zu handhaben sei. Der Feind verlangt besondere Maßnahmen, die jedoch eindeutig kodifiziert sind. Krieg ist der „normale“, der gehegte Ausnahmezustand moderner Gesellschaften. Das politisch verschleppte Problem der Zuwanderung jedoch konfrontiert uns mit der diffusen Angst vor dem grenzverletzenden Fremden, dem Unheimlichen, aus der die Vorstellungen des Bösen sich grundlegend bilden.

Es ist eine von Sigmund Freuds bleibenden großen Einsichten, dass sich das Unheimliche am Ende immer als das „Heimliche“ herausstellt. Es ist das, was wir aus uns entlassen müssen, weil es zu gefährlich ist, um es in sich zu tragen; weil es unser inneres Kontinuum, unsere Vorstellung über uns selber sprengen würde. Im Fremden begegnet es uns als äußere Bedrohung wieder. Am Umgang mit dem Fremden entscheidet sich, welche Bedeutung wir dem Bösen einzuräumen bereit sind.

Das Böse ist die Unmenschlichkeit des Menschen, die wir im Anderen erkennen. Man kann es verharmlosen, bestreiten oder anerkennen. Nur eines nicht: Man kann es nicht bewältigen, solange wir es prinzipiell, aus Gründen des Selbstschutzes, nicht auch bei uns sehen. Aber es reicht umgekehrt nicht, mit der Geste des Aufklärers auf den Mechanismus der Projektion zu verweisen und mit dem richtigen und notwendigen Verweis auf den eigenen Anteil bei der Konstruktion des Bösen, die Realität der Anderen schönzureden. Sie projizieren auf uns nicht weniger als wir auf sie: Aufgeklärte Menschen aus dem Westen auf religiöse Fanatiker aus dem Orient – und umgekehrt.

Und wir müssen sie nicht unbedingt in „fremden Kulturen“ auf der anderen Seite des Erdballs suchen. Wir leben, ohne dass uns das zu Bewusstsein käme, in einem permanenten Austausch unserer Projektionswelten. Es ist ein gigantischer, unerhörter Dialog über das Böse. Und über die Angst vor ihm. Das Böse ist der Gegenstand und das Produkt unserer universalisierten Angst vor dem universalisierten Anderen als Fremdem. Das ist die unhintergehbare Realität des 21. Jahrhunderts. Wir leben nicht in one world, sondern in krass geschiedenen differenten Welten.

Dem französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss zufolge pflegen sich die so genannten primitiven Gesellschaften im Umgang mit dem gefahrbringenden Fremden einer anthropophagen („menschenfressenden“) Strategie zu bedienen, während die modernen Gesellschaften anthropoemische („ausspeiende“) Strategien favorisieren. Die erste setzt im striktesten Sinn auf Assimilation. Die Fremden werden „inkorporiert“, gefressen, und die ihnen unterstellten mysteriösen, Angst einjagenden Kräfte auf biologischem Weg angeeignet. Die zweite, „ausspeiende“ Methode bedeutet, die Fremden außerhalb der Grenzen der Gesellschaft zu halten. Sie werden geografisch oder sozial distanziert. Die eine Strategie ist einschließend, die andere ausgrenzend. Es sind dies auch die klassischen Methoden, mit denen wir versuchen, des Bösen Herr zu werden. Was wir in der aktuellen politischen Debatte erleben, die derzeit im Schatten des Bösen geführt wird, deutet auf eine Erschöpfung beider Strategien hin.

Bezogen auf das Problem der Konfrontation des Eigenen mit dem Fremden, das hinter der Zuwanderungsdebatte steckt, macht angesichts der spätmodernen Realität weder die Einverleibung noch das Ausspucken Sinn. Wir sind zum einen nicht wirklich fähig und können uns das andere nicht mehr leisten. Damit verschiebt sich auf dramatische Weise das Problem, wie wir dem Fremden – und mit ihm dem Bösen – begegnen können.

Wenn beide Strategien nicht mehr aufgehen, sind wir zu einer Verhaltensänderung gezwungen, deren Resultat noch ungewiss ist. Die politischen Führer der westlichen Welt haben angesichts aufbrechender xenophober Rachefantasien im Gefolge des Attentats bislang mit einem ungekannten Maß an politischer Vernunft versucht, sich vor die „Fremden“ zu stellen, die in ihrem jeweiligen Machtbereich leben, und zugleich versucht, den Islam aus dem Projektionsfeld des Bösen herauszunehmen. Sie haben damit ein Niveau praktizierter Aufklärung demonstriert, das Hoffnung, aber zugleich das alte Leiden aller Aufklärung deutlich macht: dass ihre Rationalitätsstruktur letztlich nicht mit der Struktur unserer Ängste harmoniert.

In einer Situation, in der der identifizierbare Feind abhanden gekommen ist und der unheimliche, der ambivalente Fremde als tolerierte Projektionsgestalt ausfällt, muss sich die Angst, die mit dem Terrorattentat direkt in die Zentren der westlichen Welt gedrungen ist, neue Wege der Bewältigung suchen. Im Moment, gut zweieinhalb Wochen nach dem mörderischen Anschlag auf die Zwillingstürme in New York und das Pentagon in Washington, scheint der einzige Ausweg die „metaphysische Regression“, die in der Rede von dem Bösen zum Ausdruck kommt.

Und es sieht so aus, als würde das auf lange Sicht so bleiben. Denn George W. Bushs Kriegserklärung an einen nicht wirklich identifizierbaren Feind hat weniger politische als apokalyptische Züge. Alles deutet darauf hin, dass ihm, dem Gegner, die Physiognomie des Fremden und die Aura des Bösen bleiben wird. Das hätte einschneidende Folgen für die Kultur des Westens.

Es könnte – nach außen – bedeuten, dass die Idee des heiligen Krieges auch bei uns Einzug hält. Und nach innen, dass der metaphysischen Regression eine weitere folgen könnte: die Wiederkehr einer „auffressenden“ Strategie gegenüber dem Fremden. Dann hätten wir doch one world: als Schauplatz eines Weltbürgerkriegs. Eine neue Qualität des Bösen wäre dann erreicht.

CHRISTIAN SCHNEIDER, 50, ist Forschungsanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Mit Cordelia Stilke und Bernd Leineweber veröffentlichte er das Buch „Trauma und Kritik. Generationsgeschichte der Kritischen Theorie“ (Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 227 Seiten, 48,49 Mark)