Die Welt im Fummel

Mit der Ästhetisierung der Oberfläche wurde Andy Warhol zum berühmtesten und erfolgreichsten Künstler Amerikas. Sein revolutionäres Credo: Hinter dem Schein versteckt sich – nichts. Dies zu überprüfen gibt es nun in Berlin Gelegenheit: bei einer Retrospektiveund bei dem Dokument einer fotografischen Inszenierung, die Warhol „in drag“ zeigt

von OLIVER KOERNER VON GUSTORF

Marilyn, Liz, Elvis, Holly, Eddie, Jimmy und Joe. Konservendosen. Celebritys. Dollarscheine. Selbstmörder und Debütantinnen. Screen Tests. Das Empire State Building. Ein elektrischer Stuhl, in einem leeren Raum, in dem lediglich ein einziges Wort über der Tür prangt: SILENCE.

Die durchscheinende Epidermis der Ikonen Andy Warhols verdichtet sich in Schichten aus Acryl und Zelluloid, zwischen Lagen aus Zellstoff, Silberfolie, Make-up und Kunsthaar. Sie verläuft über endlose Bahnen von Leinwand, Tonband, Stoff und Papier, verstreut sich in Pigmenten, Rasterpunkten, Druckerschwärze oder wird von Polaroids, Videotapes und Hochglanzmagazinen zurückgeworfen. Sie ist durchflutet von Helium, durchdrungen von den Frequenzen der Radiosender und TV-Stationen, von Kunstlicht, dem Geruch von Savarel’s White Christmas, von Rock Candy und Godiva Pralinen – und getränkt von kosmetischen Reminiszenzen: an Johnson and Johnson’s Gesichtswasser, Wasserstoffperoxid, Hormone und Amphetamine. It’s all about style and looks.

„Wenn ihr wirklich alles über Andy Warhol wissen wollt, braucht ihr bloß auf die Oberflächen meiner Bilder und Filme und meiner Person zu sehen, das bin ich. Dahinter versteckt sich nichts. In Zukunft wird jeder fünfzehn Minuten lang berühmt sein.“ Als erhörte Gebete Verona Feldbuschs und sämtlicher Teppichluder dieser Welt wispern Andys Aphorismen durch die Echokammer der auslaufenden Postmoderne, ironischer Widerhall der entschwundenen Starsysteme Hollywoods und nostalgische Versprechung der endgültigen Abschaffung des authentischen Selbst.

Das Gesamtkunstwerk Andy Warhol verkörperte die uramerikanische Einstellung, dass Erfolg und Perfektion nicht etwa das erfreuliche Resultat angeborener Talente sind oder zu den Vorzügen eines gottgegebenen Äußeren zählen, sondern dass es sich hierbei vielmehr um den Effekt des rückhaltlosen Einsatzes aller zur Verfügung stehenden Mittel handelt – von der fotografischen Retusche über die Collagenspritze bis zum chirurgischen Eingriff. „Ich falle nie auseinander, weil ich nie zusammenfalle.“

Die Selbsterschaffung Andy Warhols geriet als paradoxe Spiegelung des amerikanischen Mythos vom Unternehmer, des „Selfmademan“, zur androgynen Inkarnation, bei der Marcel Duchamp und Shirley Temple als unfreiwillige Geburtshelfer zur Seite gestanden haben könnten. Anstelle des heroischen Ideals vom maskulinen Pionier, das von der Eroberung des Westens geprägt ist, kultivierte Warhol die Rolle eines passiven Voyeurs, des schüchternen „Sissy-Boys“, der durch seine vollkommene Identifikation mit den Mechanismen der Konsumwelt das Ego radikal neu definierte: Vom zweifelnden, unabhängigen, selbst bestimmten künstlerischen Individuum zum unbeteiligten Businessartisten, der ausschließlich durch seine von den Medien manipulierten Bedürfnisse und Wahrnehmungen bestimmt ist.

Sie sind keine Totenmasken, aber ebenso wenig sind sie Masken des Lebens“, schrieb „Generation X“-Autor Douglas Coupland über die tausenden von Polaroids und Siebdruckportraits, die Warhol seit den Sechzigerjahren bis zu seinem Lebensende von Prominenten und zahlenden Auftraggebern anfertigte.

Die Eindrücke, die die Hinterlassenschaften von Warhols Image Factory auch über fünfzehn Jahre nach seinem Tod vermitteln, sind ebenso präsent wie geisterhaft. Die gesamte künstlerische und verlegerische Produktion, seine Tagebücher, die über sechshundert von ihm angelegten „Zeitkapseln“, seine umfangreichen Sammlungen und Erwerbungen, dokumentieren den Lebensstil und die Epoche Warhols so umfassend wie bei kaum einer öffentlichen Erscheinung zuvor. Doch auch wenn eine Webcam (www.warhol.earthcam.com) rund um die Uhr auf die Ausstellungsräume des Warhol Museums in Pittsburg, Pennsylvania, gerichtet ist, und wir seine Korsetts und Perücken wie die Reliquien seiner Verwandlung betrachten können, bleibt die persönliche Haltung Warhols zu seiner Rolle im Dunklen: „Ich bin sicher, dass ich nichts sehe, wenn ich in den Spiegel schaue. Man nennt mich immer einen Spiegel, und wenn ein Spiegel in den Spiegel blickt, was gibt es da zu sehen?“

In der Regel sind wir aufgefordert, uns zwischen zwei Deutungsmöglichkeiten von Warhols Werk zu entscheiden: Einer, die ihn dafür rühmt, schonungslos die kapitalistischen Strukturen der Warenwelt und des Kunstbetriebs offengelegt zu haben; und einer, die ihn dafür verdammt, ein Handlanger dieser institutionalisierten Strukturen zu sein. Aber sind nicht beide Deutungen verfehlt? „Natürlich befindet sich Warhol in Komplizenschaft, und natürlich fordert er ständig Aufmerksamkeit für diesen Umstand“, schreibt der amerikanische Autor Steven Shapiro. „Aber das tatsächliche Interesse seiner Arbeit liegt woanders. Es ist zu spät: Die Welten der Politik und die Kunstwelt sind bereits ‚High Camp‘. Warhol war der Erste, der verstand, dass sich die gesamte postmoderne Welt im Fummel befindet, und nicht nur einzelne Individuen.“

Auf die Frage, was er über die Lewinskyaffäre denke, antwortete der bekennende Warhol-Fan Marilyn Manson 1999: „Weil jeder annimmt, ich hätte eine andere Moralvorstellung, werde ich das oft gefragt. Ich denke, Clinton hätte sich eine attraktivere und interessantere Kandidatin für den Oralverkehr aussuchen können. Aber ich glaube auch, dass jemandem einen zu blasen so ist, als wenn man jemandem die Hand schüttelt oder ihm ein Autogramm gibt. Es gehört eben zum Business. Insofern ist Clinton völlig unschuldig.“

Jahrzehnte bevor Outing zum alltäglichen Instrument politischer Publicity wurde und T-Shirts mit Klaus Wowereits spektakulärem Ausspruch „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ bedruckt wurden, befreite Warhols kommerzieller Blick alle Oberflächen von den Implikationen von Schuld: „Wenn nicht jeder eine Schönheit ist, dann ist es keiner.“ Keine Moral, kein Begriff von Ästhetik, kein metaphysischer Gegenstand könnte für Warhol wichtiger gewesen sein, als die Frage, wie man „Hautunreinheiten“ beseitigt: „Wenn mich jemand fragen würde, was mein Problem sei, müsste ich antworten: Haut.“

Die ständige Konfrontation mit Aknenarben oder Pigmentstörungen, an denen Andy litt, erübrigt die Suche nach tiefer liegenden Ursachen. Da solche Erkrankungen nur momentan und symptomatisch behandelt werden können, an der Oberfläche der Erscheinung, ist der Einsatz von Kosmetik angebracht: „Beim Siebdruck nimmt man ein Foto, bläst es auf und überträgt es mit Klebstoff auf Seide, und dann rollt man Drucktinte darüber, so dass die Tinte durch die Seide dringt, aber nicht durch den Klebstoff . . . Es war so einfach – schnell und knifflig. Ich war begeistert.“

Während Warhol die durch Operationen, Schminke oder grafische Veränderungen künstlich korrigierte Gestalt abbildete, standen auch die verschiedenen Entwicklungsschritte der Techniken und Prozeduren dieser Transformation im Mittelpunkt seines Interesses. Das Video zur Fotosession „Altered Images“, die 1981 mit dem Fotografen Christopher Makos stattfand, zeigt Warhol bei der Verwandlung in sein weibliches Alter Ego.

Dasselbe dickflüssige Make-up, das die Basis dieser Transformation ist, fand auch Anwendung bei seinen Portraits der Siebzigerjahre; mit ihm wurden alle temporären Schönheitsfehler der Models abgedeckt. Das Gesicht wurde dabei nicht nur leicht korrigiert, sondern erstarrte zur Maske, die nur durch die Farbe der Augen und der geschminkten Lippen belebt wurde. „Wir sind um so authentischer, je ähnlicher wir dem Traum werden, den wir von uns selbst haben“, sagt der Transvestit Agrado in Pedro Almodóvars 1999 gedrehtem Melodrama „Alles über meine Mutter“, nachdem er dem begeisterten Publikum Schritt für Schritt seine Silikonimplantate vorgeführt hat. „Die vollkommenste Ähnlichkeit“, schreibt der französische Autor und Kritiker Maurice Blanchot, „ist diejenige, die keinen Namen und kein Gesicht hat.“

Wie die Medienpersonifizierung Warhols verkörpern seine Images nicht das Wesen des Dargestellten, sondern seine Annäherung an den gesichtslosen Traum, dem es ähnelt. Zum klassischen Showdown des Travestie-Acts gehört der Höhepunkt, in dem sich der Darsteller die Perücke und den Fummel und vom Leib reißt und sein Plagiat in einem stilisierten Ritual öffentlich deutlich macht.

Dieser Moment ist Bestandteil des Business. Das wusste auch Lady Diana, als sie sich in einer Fernsehbeichte vor einem Millionenpublikum zu ihrer Anorexie bekannte. Und doch beinhaltet gerade jener Augenblick die eindringlichste Form von Ähnlichkeit – die Vereinigung des Kultur produzierenden Körpers mit der Kultur, die ihn produziert.

Ein unter der Lederjacke bis über die Brust geschobener Rollkragenpullover. Die rechte Hand, die nach dem Bund des Jockeyslips greift, um noch mehr zu entblößen, während sich die linke schützend über den Bauchnabel legt. „Ich sah aus wie ein Dior-Kleid, nein, wie ein Yves-Saint-Laurent-Kleid, lauter Nähte.“ Die mondäne Pose des 1969 entstandenen Portraits von Richard Avedon zeigt Andys mit Stichen und Narben überzogenen Torso, etwa ein Jahr nach Valerie Solanas Attentat, bei dem er lebensgefährlich verletzt worden war.

Selbst wenn sich nach dem Anschlag nichts an Warhols stoischem Auftreten änderte, bezeichnet dieser Zeitraum einen Wendepunkt. Mit den erhöhten Sicherheitsmaßnahmen in der Factory und Andys verstärkter Hinwendung zu den Reichen und Erfolgreichen wurde die geschlossene Gesellschaft der „Superstars“ allmählich durch neue Prototypen aus der Modewelt ersetzt und verjüngt: Von Speed Queens und Drogenfreaks zu Teenage Models und Covergirls wie Donna Jordan, Jane Forth, oder Patty D’Arbanville, allesamt abgebildet in Interview.

1969 ursprünglich als Underground-Filmzeitschrift gegründet, die Warhol und Paul Morrisey den Zutritt zu Screenings und Filmfesten verschaffte, sollte sich Interview in den Siebzigerjahren zu einem der stärksten Publicity-Vehikel der Warhol Enterprises entwickeln. Divine trägt Zhandra Rhodes. Mick Jagger interviewt Calvin Klein. Aus IN wird die Kolumne OUT: Andy Warhol’s Interview half Warhol und seinen Mitarbeitern auch, prestigeträchtige Aufträge für Portraits zu akquirieren und die Türen des Weißen Hauses zu öffnen – aber vor allem definierte es die Maßstäbe von Glamour und Schönheit über die nächsten Dekaden.

Interview war nicht darauf aus, Kleider, Make-up oder Düfte zu verkaufen, obwohl es all das tat. Es war darauf aus, sich selbst zu verkaufen. Und das ist wohl so ziemlich das, worum es sich bei Mode handelt.“ Was das ehemalige Redaktionsmitglied Glen O’Brien über das Produkt Interview äußert, ließe sich auch über das Produkt Andy Warhol sagen, dessen Konterfei anlässlich der New Yorker Retrospektive im Februar 1989 auf dem Cover des von ihm gegründeten Magazins erschien. Von einem seiner Polaroids blickte uns Andy entgegen, wie er sich selbst fotografiert: ein Spiegel, der in einen Spiegel blickt, in einen gesichtslosen Traum.

OLIVER KOERNER VON GUSTORF, 40, lebt als freier Autor in Berlin. Mehr von ihm zu lesen ist in Marc Brandenburg, Darius James, Oliver Koerner von Gustorf: „White Rainbow“, Berlin 2000, Maas Media, 20,99 Mark