Anhaltendes Palaver

Was heißt Antiamerikanismus eigentlich? Und weshalb frönt man dieser Haltung? Und was besagt es, wenn einige Menschen den Terror in New York und Washington in klammheimlicher Freude für die gerechte Strafe einer verfehlten Außenpolitik halten? Eine Selbstbeobachtung wie eine Erinnerung an AFN und eine Amerikareise aus dem Jahre 1987

von MICHAEL RUTSCHKY

Meine Selbstbeobachtung sagt mir, dass ich weiß, was Antiamerikanismus ist. Ich hing ihm nämlich auch an, eine ganze Weile, mal mehr, mal weniger heftig. Ich kann das ziemlich genau datieren: von 1963 bis 1987.

Davor, in der Kindheit und Jugend, während der späten Vierziger- und der Fünfzigerjahre bildeten die USA die Utopie. Die Amerikaner, hieß es in der Familie, haben uns von Hitler befreit; Mutter bewunderte den Präsidenten Roosevelt. Mutter entdeckte den AFN auf der Radioskala, und ich selber habe gleichfalls jahrzehntelang AFN gehört, regelmäßig, sogar während meiner schärfsten antiamerikanischen Periode.

Die Pakete der Verwandten aus den USA enthielten leckere und rätselhafte Dinge, Comics beispielsweise; man lernte Rock ’n’ Roll tanzen und ging so oft wie möglich in Hollywoodfilme, die sich in meinem Kopf zu einem ganzen mythologischen System auswuchsen.

Unternehmungslustige Freunde der Eltern wanderten aus und schickten Erfolgsberichte aus Omaha, Nebraska, in die düstere, ärmliche BRD; obwohl der Mann als Arzt alle Prüfungen noch einmal machen musste, denn der Dr. med. und der MD sind inkompatibel.

Die schöne Zeit der US-Adoration – ich vereinfache natürlich – wurde oft beschrieben, und während meiner antiamerikanischen Periode lernte ich sie tüchtig kritisieren. Hinter dem Sieg über Hitler tauchten mächtig die Atombomben gegen Hiroschima und Nagasaki auf. Was trieben die USA eigentlich die ganze Zeit in Lateinamerika? Dass sie die Existenz West-Berlins gegenüber der Sowjetunion garantierten, verdiente keineswegs Tadel; doch hätten sie weit entschiedener und von sich aus den Kalten Krieg beenden und die allgegenwärtige Atomkriegsbedrohung zurücknehmen können. Warum unterstützten sie – angeblich der Inbegriff von Freedom And Democracy (gern zitierten wir ein höhnisches Gedicht von Bert Brecht) – Francos Diktatur in Spanien und manch andere Diktatur?

Hier beginnt eine lange Liste mit Vorwürfen, die natürlich auch den Vietnamkrieg und die Pinochet-Diktatur in Chile enthält und sich bis zur Kolonialisierung durch die allumfassende US-Konsumkultur (McDonald’s) steigern lässt, von der die einheimischen Werte ... Na, Sie wissen schon. Einige unglückselige Lehrerinnen im Sächsischen griffen ja auf diese Liste zurück, um die Zerstörung des WTC und des Pentagonflügels als irgendwie angemessene Antwort zu deuten. Während sie God’s own country vorstellen wollen, bringen die USA das größte Unheil in die Welt.

Wie gesagt, ich selbst begann an dieser Liste des Antiamerikanischen 1963 mitzuwirken, am 22. November. Da wurde Präsident Kennedy erschossen, dessen Wahl für unsereinen auf mythische Weise den Neuanfang bedeutete. Jetzt endete die Nachkriegszeit und die Herrschaft der alten Männer. Jetzt waren wir dran. Gern traute man Kennedy nicht nur die Durchsetzung der Bürgerrechte im Süden, sondern auch die Beendigung des Vietnamkriegs zu (den er ja vom kolonialen Frankreich geerbt hatte, so wie die Schweinebuchtinvasion von der Eisenhower-Administration). Eben dies, dass man ihn ermordete, weil er die US-Truppen aus Vietnam abziehen wollte, wussten bald viele Verschwörungstheoretiker. Und warum, mögen Sie fragen, endete Ihre antiamerikanische Periode präzise 1987?

Weil ich 1987 zum ersten Mal dort war, tatsächlich. All die Austauschprogramme für Schüler und Studenten, mit denen die USA – nach dem Prinzip des Gabentauschs, der Loyalitäten stiftet statt kauft oder erpresst – die BRD und so viele andere Länder traktierten, hatten mich zu erfassen versäumt.

Wenn man die USA bereist, fällt es schwer, an jener Vorwurfsliste unerschütterlich festzuhalten. Zum einen, weil die Überzeugungskraft von Chicago oder New York einfach unabweisbar ist – der Journalist Harald Jähner beschrieb das nach der Attacke treffend als besonders tränentreibend: New York gehört als Stadt und Stadtgestalt der Welt; wir alle haben einen schrecklichen Verlust erlitten.

Zum anderen beendete jener erste Aufenthalt meine antiamerikanische Periode, weil ich auf so viele Amerikaner traf, die präzise an derselben Liste mit Vorwürfen gegen die Politik ihres Landes arbeiteten wie ich. (Andere natürlich an anderen: Präsident Reagan verhalte sich immer noch viel zu höflich gegenüber der maroden Sowjetunion, statt ihr entschlossen den Gnadenstoß zu geben.) Will sagen: Dies folgt doch haargenau dem Prinzip, das die USA (die Westalliierten) nach 1945 in der BRD als ein demokratisches Grundprinzip durchsetzten. Dass alle politischen Entscheidungen ein unaufhörliches Abwägen des Für und Wider, eine Atmosphäre der Gründe einhüllen.

Keine politische Entscheidung entspringt dem Gottesgnadentum des Königs; oder dem Genie des Führers, das man nötigenfalls durchsetzt, indem man diejenigen erschießt, die es bezweifeln. Das unauflösliche Recht auf Meinungsfreiheit übrigens machte meinen alten Freund Leroy schaudern, als er von jenen Lehrerinnen im Sächsischen hörte, dass die Obrigkeit sie beurlaubt habe. In den USA müsse man sich üblicherweise noch ganz anderen wilden und bösen Unfug anhören.

Und bei diesem anhaltenden Palaver geht es eben um Politik; auch wenn die Teilnehmer manchmal meinen, sie setzten einen Heilsplan durch – was bei anderen Teilnehmern die schlimmsten Unheilsbefürchtungen und -diagnosen auslösen kann. Zwar geht es bei allen Diskussionen unweigerlich um Innerweltliches, doch enthält die politische Rhetorik der USA so viele religiöse Elemente, dass man Politik mit Eschatologie verwechseln kann.

Die Sache mit der Kreuzzug (crusade) gegen den Terrorismus, die der Präsident Bush II dann gleich zurücknehmen musste, bietet dafür ein gutes Beispiel. Ich stelle mir vor, dass diese religiös unterfütterte politische Rhetorik auf der islamischen Gegenseite den Eindruck verstärkt, man befinde sich tatsächlich in einem Religionskrieg um letzte Dinge. Der Antiamerikanismus ist ein Ding mit theologischen Mucken.

Das lässt sich auch in unseren Kreisen beobachten. Die klammheimliche Freude, dass mit dem WTC ein Monument kapitalistischer Hybris unterging, war diesem und jenem Leserbrief oder Leitartikel ohne Mühe abzulesen.

Überhaupt – erklärte mir ein Religionswissenschaftler – verrät der gegenwärtige Antikapitalismus (der notwendig Antiamerikanismus impliziert, weil die USA nun mal die mächtigste Ökonomie betreiben) weniger einen ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit auf der Welt, sondern religiöse Abscheu vor dem Geld und was man damit alles machen kann, dass die Seele sich dabei unwiederbringlich an die Materie, an die äußeren Reize der Warenwelt verliert.

Auch ein anderer Hauptvorwurf auf der Liste, dass die USA (der Westen) die Dritte Welt ausbeute – so der Religionswissenschaftler –, verrät den theologischen Hintergrund: Der Vorwurf unterstellt, dass der Reichtum der Schöpfung ursprünglich allen zukam; dann aber macht der große Satan sich ans Werk und stellt Ungerechtigkeit her. Gerechtigkeit erscheint nicht als Ziel politischer Aktion, sondern als verlorener Paradieszustand. Diese Konzeption stamme aus der Antike ...

Aber vielleicht fragen Sie ihn besser selbst, den Religionswissenschaftler. Was mich betrifft, so sind diese Elemente meiner Selbstbeobachtung ohne weiteres zugänglich. Bis zum 22. November 1963 hing ich einem schwärmerischen Amerikanismus an; die USA besiegten als Heer des Lichts die Nazis als Heer der Finsternis. Dass sich dann aber ein einheimischer Mörder für die messianische Lichtgestalt des Präsidenten Kennedy fand, verwandelte die USA ihrerseits ins Reich der Finsternis, und ich schloss mich einem Antiamerikanismus an, der in den Schandtaten des großen Satans mit langen Listen schwelgte. Bis mich eine Reise in die USA aus dem religiösen Schema herauswarf.

Das Merkwürdige an diesen Listen ist eben, dass sie gar keine politischen Entscheidungen und Ereignisse verzeichnen, die man so oder auch anders einschätzen könnte. Die Listen enthalten ausschließlich Unheil. Betrachten Sie die folgenden Sätze und beobachten Sie, wie sich welche Meinung sogleich in Ihnen bildet:

Letzten Endes hat das lange Bombardement seine Ziele erreicht; Milošević ist abgewählt, er steht sogar als mutmaßlicher Kriegsverbrecher vor dem internationalen Tribunal. – Es war weise von der Bush-I.-Administration, den Irakkrieg abzubrechen, als Saddam Kuwait wieder aufgab; eine Eroberung des Irak hätte grauenvolles Blutvergießen, eine Besetzung des Landes unlösbare Schwierigkeiten und Konflikte gebracht.– Überraschenderweise zeigte sich gerade die Reagan-Administration, in der ja entschlossene kalte Krieger noch einmal an die Macht kamen, in der Lage, der Sowjetunion so bei ihrem Zusammenbruch zu assisitieren, dass er ohne Blutvergießen stattfand; der Sieger versagte sich sogar jedes Triumphgebaren. – Es ist gut, dass die USA sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht isolationistisch auf sich selbst zurückgezogen haben (wie nach dem Ersten); ihre Interventionen misslangen häufig dramatisch, aber Erfolge sind auch schwieriger auszustellen. Ein Zusammenbruch des amerikanischen Imperiums brächte uns unvergleichliches und unerträgliches Unglück.

Die Frage nach dem Interventionismus treibt mit Leichtigkeit aus dem Anti- den messianischen Amerikanismus wieder heraus. Warum verfahren die USA nicht weit strenger mit Russland wegen seiner Grausamkeiten in Tschetschenien? Warum schickten sie nicht Bodentruppen nach Jugoslawien, dann wäre Milosevićs Regime weit gründlicher ... Warum lassen sie die Iraker unter Saddam Hussein leiden, statt einfach ... Warum verwenden sie nicht ihre unglaubliche Macht, um Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt zu stiften?

Tja, liebe Kinder, weil die USA, wenn schon nicht der große Satan, dann auch nicht der liebe Gott sind.

MICHAEL RUTSCHKY, 58, unter anderem Autor der taz und vielfach ausgezeichneter Essayist, hat kürzlich das Buch „Berlin. Die Stadt als Roman“ (Ulllstein Verlag, Berlin, 2001, 200 Seiten, 46,94 Mark) veröffentlicht